Motettenansprache
- 03.02.2018
- Pfarrer i. R. Christian Wolff
Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fälltKantate zum Sonntag Sexagesimae, BWV 18
Liebe Gemeinde,
der frühere Vorsitzende der Neuen Bachgesellschaft, Christhard Mahrenholz, schrieb 1919 als junger Theologiestudent in Leipzig an seine Eltern einen Brief. In diesem berichtet er von seinen Gottesdienstbesuchen:
Leider sind die Pastoren in Leipzig miserabel. In der Thomaskirche reden Musik und Pastor immer aneinander vorbei. Ich habe noch nie gehört, dass ein Pastor auf die Musik Bezug genommen hat! Dann ist es auch begreiflich, wenn nach der Kirchenmusik c. 600 Menschen die Kirche verlassen, um dann in der Universitätskirche noch rechtzeitig zur Predigt zu kommen.
Da können wir ja gespannt sein, welche Mails und Twitter-Botschaften in 100 Jahren auftauchen und darüber Auskunft geben werden, wie die heutigen Thomaner die Pfarrer beurteilen. Hoffen wir aber auch, dass - auch wenn in der Thomaskirche am morgigen Sonntag sicher gut gepredigt wird - dennoch Hunderte Menschen den Gottesdienst in der neuen Universitätskirche St. Pauli am Augustusplatz besuchen. Er beginnt ja erst um 11.00 Uhr.
Dennoch: Wort und Musik aufeinander zu beziehen und die Musik einzusetzen als Medium der Verkündigung, zum Trost, zur Stärkung und Schärfung der Gewissen, das war und ist keine Selbstverständlichkeit - auch heute nicht. Darum ist es immer eine besondere Herausforderung für Pfarrerinnen und Pfarrer, mit der Predigt der Professionalität der Musik stand zu halten - zumal es eine Brücke zu schlagen gilt zwischen der wunderbaren Musik Bach's und den Texten, die seinen Kompositionen zugrunde liegen. Diese sind aber für manchen nicht nur schwer zu verstehen, sondern manchmal auch kaum zu ertragen. Das trifft auch für die Kantate „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt" zu - denken wir nur an die dritte Bitte im litaneihaften Rezitativ. Da ist von
des Türken und des Papstes grausamen Mord und Lästerungen, Wüten und Toben ...
die Rede. Heute hören wir das mit sehr gemischten Gefühlen. Denn weder wollen wir Papst Franziskus noch den Millionen unter uns lebenden Türken unterstellen, dass von ihnen eine tödliche Gefahr ausgeht. Angesichts einer langen Versagens- und Gewaltgeschichte haben wir als Christen und Kirchen allen Grund, in der Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen, Religionen und Kulturen keinen Hass zu schüren - gerade weil Konflikte religiös schnell aufgeladen werden können. Heute ist unsere Aufgabe, das interreligiöse und interkulturelle Zusammenleben in Europa und in unserer Stadt friedlich zu gestalten.
Doch wenn wir diesen und die anderen Gedanken aus der Kantate auf dem Hintergrund des Reformationsgeschehens vor 500 Jahren zu verstehen versuchen, dann wird deutlich: Die Menschen fürchteten sich damals davor, die gerade durch das Wort der Bibel gewonnene Freiheit wieder zu verlieren. Sie fürchteten sich vor denen, die im frei zugänglichen Wort eine Bedrohung ihrer Macht erkannten. Sie fürchteten, dass durch verordnete Bevormundung ihnen wieder ein bestimmtes Denken aufgezwungen werden soll. Vor allem aber fürchteten sie sich vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten. Darum versahen sie in den Bitten die Gefahren mit Namen und bekannten sich zu ihrem eigenen Beteiligtsein an den Missständen.
Doch entscheidend ist: In der Kantate werden keine Vernichtungsphantasien als Vorstufe tatsächlicher Gewalt beschworen. Vielmehr werden die Bitten vom Sopran litaneimäßig auf einem Ton gesungen und münden in den vierstimmigen Gebetsruf ein:
Erhör uns, lieber Herre Gott
Die Botschaft ist eindeutig: Den Widrigkeiten des Lebens wie angepasste Leisetreterei, diktatorisches Machtstreben, Geldsucht haben wir nichts anderes als das Wort, das Wort von der Gnade Gottes, das Wort des Friedens, der Barmherzigkeit entgegenzustellen. Auch wenn sich dieses als endlich und begrenzt erweist, so dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, im Streit andere Machtmittel einzusetzen. Denn das Wort ist ja nicht nur Sprache. Vielmehr kann das Wort Gottes hundertfach Frucht tragen, allerdings auch wirkungslos bleiben - dann, wenn es, wie im Gleichnis vom vierfachen Acker dargestellt, auf unfruchtbares Land fällt, auf dem Weg zertrampelt wird oder von Dornen und Gestrüpp am Gedeihen gehindert wird. Aber da, wo das Wort Frucht trägt, entsteht Wachstum - und nicht Zerstörung. Das wird mit der Sopran-Arie bekräftigt:
Mein Seelenschatz ist Gottes Wort.
Dieses Wort ist nicht statisch zu verstehen, ist nicht starr und leblos. Es ist in Jesus Christus Fleisch geworden. Es wird durch Gottes Geist lebendig, verändert sich dadurch, wird zur Tat. So ist das Zitat aus dem Prophetenbuch des Jesaja im ersten Rezitativ zu verstehen. Es wird nicht von ungefähr von der Jesus-Stimme, dem Bass, gesungen:
Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und wachsend ... Also soll das Wort, so aus meinem Mund gehet, auch sein; es soll nicht wieder zu mir kommen, sondern tun, das mir gefället, und soll ihm gelingen, dazu ichs sende.
Jesaja 55,10-11
Das Wort verändert sich in uns wie ein Same, vermengt sich mit der Erde und kehrt anders zurück, als es gekommen ist.
Auch die Musik ist ein Medium, das das Wort aufnimmt, formt, auslegt - und ihm dadurch einen Weg in unsere Köpfe und Herzen bahnt. Vielleicht beginnt Johann Sebastian Bach die Kantate deswegen mit einer Sinfonia, um zunächst einmal das Feld, den Acker zu bereiten - um eine Sprache einzuführen, die universal zu verstehen ist, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren. Das ist ja das Besondere an der Musik Bachs: Für den, der den biblischen Hintergrund der Kantate kennt, verdeutlicht das von den Violen gespielte Thema der Sinfonia das Ausstreuen des Samens oder das Fallen der Tropfen von Schnee und Regen auf die Erde. Die mehrstimmige Ausführung illustriert die sich daraus ergebende vielfältige Frucht. Der aber, der die Musik „nur" auf sich wirken lässt, wird sehr schnell spüren: Diese Sprache verharrt nicht in sphärischen Gefilden, sondern sie will uns Menschen mit einer wertvollen Botschaft berühren. Diese hat beides im Blick: sinnvolles Leben und die Ehre Gottes. Genau diese Botschaft wird im Bass-Rezitativ mit dem Jesaja-Zitat in Wort und Musik gefasst. In der Litanei wird dann aufgezeigt, was mit dem Wort Gottes geschieht, wenn es in unsere Wirklichkeit eindringt: es vermengt sich mit dieser, fällt unter die Dornen, unters Gestrüpp, auf Felsen und schließlich bringt es auch Frucht, wirkt also als kritische Instanz und verleiht unserem Leben Orientierung. Wer das begriffen hat, kann das Wort Gottes als „Seelenschatz", als Lebenskompass betrachten. Mit diesem verheddere ich mich nicht in den Netzen und Fallstricken von hybriden Machtansprüchen und ungehemmter Geldgier. Vielmehr kann ich Halt und Haltung gewinnen und wahren.
Gebet
Gott, unser Vater,
wir danken dir für das Wort des Lebens,
das uns aufrichtet und tröstet,
das uns Wegweisung verleiht
und in die Verantwortung ruft.
Lass dieses Wort in uns wachsen,
damit es Früchte der Gerechtigkeit
und des Friedens trägt.
Lass es nicht leer zu dir zurückkehren,
sondern gefüllt mit Hoffnung und Vertrauen.
So beten wir mit Jesu Worten:
Vater unser im Himmel ...
Christian Wolff, Pfarrer i.R., info@wolff-christian.de ,www.wolff-christian.de