Motettenansprache

  • 02.02.2018 , Darstellung des Herrn – Lichtmess
  • Pfarrer i. R. Christian Wolff

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)Jesu, meine FreudeMotette für fünfstimmigen Chor und Basso continuo, BWV 227

Nunc dimittis
Der Lobgesang des Simeon
Böhmische Brüder, 1566

Johannes Eccard (1553-1611)
Maria wallt zum Heiligtum
Motette für sechsstimmigen Chor

Liebe Gemeinde,

dass Maria, die Mutter Jesu, für die Christen zu allen Zeiten eine so große Bedeutung gewonnen hat, liegt nicht nur an den besonderen Umständen ihrer Schwangerschaft. Maria ist die Frau, die durch die Geburt Jesu der geschundenen Schöpfung und den an den Rand gedrängten, ihrer Würde beraubten Menschen eine neue Perspektive verliehen hat. Das wird auch in der anrührenden Szene im Tempel deutlich, die der Evangelist Lukas überliefert hat und die diesem Tag sein Profil verliehen hat. Die Szene ist auf dem Gemälde ... dargestellt. Da bahnt sich ein alter Mann namens Simeon mühsam einen Weg durch das Menschengewirr in den engen Gassen Jerusalems und betritt - vom Tod gezeichnet, aber voller Erwartung - den Tempel. Fromm ist er, gottesfürchtig, voll Sanftmut und Geduld, alt und lebenssatt. Doch Simeons Augen leuchten in Erwartung auf Israels Trost, auf den Messias, auf Christus, den Retter. Er wird es nicht mehr erleben, aber die Generationen nach ihm.

So wird der alte Simeon zum Botschafter einer Hoffnung, die auch dann nicht zuschanden wird, wenn Menschen dem Ende ihres Lebens nahe gekommen sind. Denn diese Hoffnung lässt Simeon nicht einsam, verlassen und enttäuscht sterben. Vielmehr hält er, der schon alles losgelassen hat, mit dem Jesuskind das neue Leben im Arm und findet so Trost für alles, was er selbst dem Leben schuldig blieb und was ihm in seinem Leben vorenthalten wurde. Wenn es den Choral „Jesu, meine Freude" damals schon gegeben hätte, man könnte sich vorstellen, dass Simeon ihn angestimmt hätte. Er sang aber - wie wir noch hören werden - ein anderes Lied.

Doch Simeon ist nicht der einzige, der in dem Jesuskind den Grund alles Trostes und aller Hoffnung entdeckt. Der Evangelist Lukas berichtet, wie aus dem Dunkel des Tempels eine alte Frau hervortritt - Hanna, eine Prophetin. Sie ist ein Beispiel dafür, dass es die Frauen sind, die in den entscheidenden Momenten des Lebens Geistesgegenwart bezeugen. Hanna also, die in ihrem Leben nur dem Scheitern, durch den frühen Tod ihres Mannes nur der Vergänglichkeit ausgesetzt war, durch Kinderlosigkeit abgeschnitten war vom gesellschaftlichen Leben - diese alte Frau behält dennoch Haltung. Unablässig betend, immer auf das Ziel der Befreiung Israels ausgerichtet, wird Hanna - wie Simeon - zu einer glaubwürdigen Prophetin der Hoffnung.

Und nun entwickelt sich die Begegnung der Generationen, zwischen Greis, Greisin und der Heiligen Familie, zu einem Gottesdienst der besonderen Art. Simeon stimmt, das Jesuskind im Arm, ein Lob- und Danklied an:
Herr, die Zeit ist gekommen,
da du mich in Frieden ziehen lässt,
deinen Knecht.
Denn meine Augen haben das Heil gesehen:
den Retter, den du den Völkern gesandt hast,
sichtbar vor allen,
den Fremden leuchtend,
und ein Ruhm und Glanz für Israel,
dein Volk."
Lukas 2,29-32 - nach der Übersetzung von Walter Jens

Wir werden diesen Gesang nachher hören. Das „Nunc dimittis" ist seit über 1.500 Jahren Teil der Vesperliturgie. Warum? Weil wir am Ende einer Woche mit all ihren Verwerfungen, mit Erfahrungen von Gelingen und Versagen, auf Versöhnung zwischen den Extremen angewiesen sind, vor allem zwischen Leben und Sterben. Denn was dem alten Simeon bis zuletzt Lebenskraft gegeben hat: das Vertrauen auf Gottes Kommen, wird nun, da er in dem Kind den Messias erkannt hat, ein Trost für das Sterben. Die öffentliche Darstellung Jesu im Tempel verleiht Simeons Glauben, seinem Leben und damit Israels Hoffnung einen Sinn. Alle Zweifel, alle Ungewissheit, alle Vergeblichkeit haben ein Ende. Simeon kann in Frieden sterben.

Was für ein Kontrast zum Lebensgefühl und zu den Sterbeängsten vieler Menschen heute. Da ist am Ende eines Lebens (und nicht erst dann) kaum mehr von den Hoffnungen, sondern oft nur von den Enttäuschungen, den unerfüllten Wünschen die Rede, von vergeblicher Mühsal, von der Last eines Sinn entleerten Altwerdens und der Einsamkeit - und davon, was das alles kostet. Welcher alte Mensch kann in den Stunden des Sterbens noch ein neugeborenes Kind in den Arm nehmen? Und welcher greisen, kinderlosen Frau ist es vergönnt, in einem Säugling die eigene Hoffnung auf Befreiung von aller Bedrückung bestätigt und erfüllt zu sehen? Wo kommt es überhaupt noch zu diesen tiefen Begegnungen zwischen den Generationen, wenn wir an die Abgeschiedenheit von Pflege- und Intensivstationen denken? Wo wird die Hoffnungskraft des Glaubens, die rettende Botschaft von der Befreiung aller Völker und der Segen Gottes von einer zur anderen Generation, von einer Nation zur anderen getragen? Gehören heute nicht die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, die Angst vor den Fremden und einer geeinten Völkerwelt zur traurigen Realität? Wie oft sagen oder denken alte Menschen: Hoffentlich ist es bald mit mir vorbei, damit ich nicht erleben muss, was der jungen Generation bevorsteht? Wie häufig steigert sich die Angst vor Vielfalt zur absurden Bedrohungsszenarien?

Das alles müsste, das kann bei uns ganz anders sein. Ja, es gehört zu den vornehmsten Aufgaben und Möglichkeiten, wie Simeon und Hanna viel mehr von den Visionen und Träumen zu reden, die ihren Grund im Glauben an Gottes Wirken haben. Das ist allemal besser, als sich der Ideologie der Unveränderbarkeit und damit denen zu unterwerfen, die meinen, sie seien die Herren der Welt. Wir können trotz aller gegenteiligen Erfahrung auch im hohen Alter sanft und vertrauensvoll in die Zukunft dieser Welt und auf unsere Kinder blicken wie die beiden Alten im Tempel - wenn, ja wenn wir über die Geistesgegenwart eines Simeon verfügen, im richtigen Moment in den Tempel zu gehen, um im Kind und in den unscheinbaren Dingen des Lebens die lebendige Hoffnung, die Rettung Gottes zu entdecken. Dann müssen wir auch als Jüngere nicht mehr alles schlecht reden und in jeder neuen Herausforderung, in jedem Misslingen, in jedem Problem den Untergang beschwören. Auch wenn wir uns am Ende wähnen, können voller Vertrauen auf den neuen Anfang hoffen. Amen.


Gebet
Gott, unser Vater,
durch Jesus Christus
hast du Leben und Tod,
Verzagtheit und Hoffnung
miteinander verbunden.
Dafür danken wir dir.
Denn nun brauchen wir uns
nicht mehr zu fürchten
vor einem sinnentleerten Ende
unseres Lebens.
Darum bitten wir dich:
Stärke du die Hoffnungskraft unseres Glaubens.
Verwandle das dunkle Gestern
in ein helles Morgen.
Wir bitten für ein zuversichtliches
Zusammenleben der Generationen.
Lass uns nicht aufhören,
uns gegenseitig von unseren
Träumen und Visionen,
von unseren Ängsten und Hoffnungen
zu erzählen.
Vater unser ...

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R., info@wolff-christian.de, www.wolff-christian.de