Motettenansprache

  • 02.12.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach
Nun komm, der Heiden Heiland
Kantate zum 1. Adventssonntag BWV 61 für Sopran, Tenor, Bass, Chor, Streicher und Basso continuo

Chor
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.

Rezitativ (Tenor)
Der Heiland ist gekommen,
hat unser armes Fleisch und Blut
an sich genommen
und nimmet uns zu Blutsverwandten an.
O allerhöchstes Gut!
Was hast du nicht an uns getan?
Was tust du nicht
noch täglich an den Deinen?
Du kömmst und lässt dein Licht
mit vollem Segen scheinen.

Arie (Tenor)
Komm, Jesu, komm zu deiner Kirche
und gib ein selig neues Jahr!
Befördre deines Namens Ehre,
erhalte die gesunde Lehre
und segne Kanzel und Altar!

Rezitativ (Bass)
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.
So jemand meine Stimme hören wird
und die Tür auftun,
zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl
mit ihm halten und er mit mir.

Arie (Sopran)
Öffne dich, mein ganzes Herze,
Jesus kömmt und ziehet ein.
Bin ich gleich nur Staub und Erde,
will er mich doch nicht verschmähn,
seine Lust an mir zu sehn,
dass ich seine Wohnung werde.
O wie selig werd ich sein!

Choral
Amen, amen!
Komm, du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange!
Deiner wart ich mit Verlangen.

Liebe Gemeinde hier in der Motette,
morgen ist der erste Advent. Was erhoffen Sie sich von den nächsten drep Wochen bis Weihnachten? Vielleicht haben Sie Ihre Wohnungen geschmückt oder sind noch in den Vorbereitungen. Freuen sich vielleicht auf den ein oder anderen kurzen Ausflug auf den Weihnachtsmarkt, oder hoffen auf ein wenig Besinnung und Einkehr, oder haben das Verlangen nach Licht und Wärme und sehnen sich nach einem stillen Nachmittag oder Abend zuhause, weil Ihnen der ganze Rummel zu viel ist und zu laut? Oder überhaupt die ganze Welt zu rummelig und zu laut, dass einem das alles im Moment irgendwie zu viel ist und man denkt: Was wird als Nächstes passieren? In welcher Richtung geht es weiter, politisch gesehen, was erwartet uns da, was ist alles im Umbruch in unserer Gesellschaft? Manches an Fragen und Gefühlen lässt sich benennen, anderes ist eher diffus und unklar.

Die heutige Kantate von Johann Sebastian Bach spricht in ihrer Adventsbotschaft direkt in all unsere Fragen und Sehnsüchte hinein. Sie beginnt mit der Bitte des alten Adventsliedes: „Nun komm der Heiden Heiland." Ganz still wird diese erste Choralzeile von allen vier Chorstimmen nacheinander gesungen. Alle Welt ruft diesen Erlöser, den Helfer herbei, sehnt sich nach seinem Kommen in unser Leben. Gerade auch in unsere Zerrissenheit, in all das, was irgendwie einen neuen Anfang braucht, in das, wo wir nicht klar sehen. Die einfache Bitte: Komm zu uns allen. Aus allen Himmelsrichtungen ergeht diese Bitte, es ist die ganze Welt, die da ruft, es ist die Menschheit.

Es ist dieselbe Welt, die sich dann aber eben auch wundert, wie dieser Helfer zu ihr kommt, denn das hat so gar nichts zu tun mit dem, wie man in unserer Welt auftritt, wenn man erfolgreich sein will. Da ist gar nichts smart, schön, durchgestylt. Von Anfang an ist das so: Da ist eine einfache junge Frau mit ihrem Kind, da ist Armut, da sind Leute, die aus der Gesellschaft rausgefallen sind wie die Hirten. Und wie es die Propheten beschrieben haben, wird er selbst ein König, der auf einem Esel reitet statt auf einem Schlachtross, weil er nicht den Sieg über andere Kulturen und Mächte demonstrieren will, sondern wohin er auf dem Weg ist: Zu den Verzweifelten, zu den Verzagten, zu den Erstarrten, zu denen mit der Sehnsucht auf neue Anfänge in ihrem Leben, zu denen, die sich um sich selbst drehen - also zu uns, wie wir sind.

Bach beschreibt das im Eingangssatz der Kantate wie eine französische Ouvertüre, dasjenige Musikstück in der französischen Oper, währenddessen der König seine Loge zu betreten pflegte. Es ist die Begrüßung eines Königs, der sich den Menschen zuwendet, um ihnen herauszuhelfen aus diesem Drehen um sich selbst, um sie herauszuholen aus den Mauern und Wänden, die wir um uns aufrichten.

Dieser König steht vor unserer Tür und klopft bei uns an, so heißt es Bass-Rezitativ: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen." Unsere erwartungsvolle Wachheit ist gefragt, dass wir diese Klopfzeichen Gottes hören. In Bachs Musik sind sie gleich nicht zu überhören, aber in unserem Alltag? Hören wir sie da? Wollen wir sie hören? Diese Klopfzeichen, die uns unterbrechen in unserer Beschäftigung mit uns selbst? Die uns dazu auffordern, unsere Tür aufzumachen und etwas hineinzulassen, was uns verändern wird, was uns aufbrechen lässt? Es ist auch ein Wagnis, diesen König bei sich einzulassen mit seinem ständigen Pochen auf die Würde des Menschen, nicht nur der anderen, sondern vor allem erst mal auch unserer eigenen. Dass es sich mit unserer eigenen Würde nicht verträgt, wenn wir uns abfinden mit unserer Zerrissenheit, mit unserer Müdigkeit, mit unserer Resignation, mit einer Haltung: Was auch geschehen mag, Hauptsache ich komme irgendwie durch mit heiler Haut und versuche mich, so gut es geht, abzulenken. Dass wir aufwachen, zur Tür gehen und sie öffnen - dazu kommt er zu uns.
Ich denke, es gibt viele Weisen, wie dieses Anklopfen bei uns geschieht. Aber es geschieht, da bin ich sicher, und auch wenn es gespitzte Ohren braucht, kommt es doch auch durch durch all den Rummel und den Trubel, den wir irgendwie in der Adventszeit wohl veranstalten müssen. Und so bleibt nur die Frage, ob und wie wir uns zum Resonanzboden dieses Anklopfens Gottes bei uns machen lassen, so wie es in der abschließenden Sopranarie geschieht: „Öffne Dich, mein ganzes Herze...bin ich gleich nur Staub und Erde, will er mich doch nicht verschmähn, seine Lust an mir zu sehn." Offensichtlich haben Erdmann Neumeister, der den Text zu dieser Kantate geschrieben hat und auch Bach selbst den Advent so verstanden als Hoffnung und Erwartung: Gott kommt zu mir - zu mir persönlich. Was davon erwarten wir?

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org