Motettenansprache

  • 18.11.2017
  • Prof. Dr. Frank M. Lütze

Liebe Gemeinde,

Stellen Sie sich vor: Eines Tages erleidet Ihr Glaube fundamental Schiffbruch, und Sie können nur Weniges davon retten: Was würden Sie festhalten? Was müsste bewahrt werden, wenn das Vertrauen auf einen allmächtigen und barmherzigen Gott auf der Strecke bleibt? Vielleicht darf man das im November, kurz vor Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag einmal fragen, also in jener Zeit, in der die Abschiede präsenter sind als sonst im Jahr. Mancher musste einen Menschen hergeben und sortiert nun die Erinnerungen: Welches Bild, welchen Satz, welchen Blick möchte ich behalten, wenn jener Mensch nicht mehr ist? Anderen ist in diesem Jahr ihre Partnerschaft auf der Strecke geblieben: Wofür war es dennoch gut? Lohnt es sich, Erinnerungen auch dann zu bewahren, wenn am Ende eine große Enttäuschung steht? Und wer kann schon garantieren, dass nicht eines Tages ebenso der Glaube Schiffbruch erlei-det oder unterwegs leise abhanden kommt. Was bleibt, was soll bleiben, wenn das Gottver-trauen nicht länger trägt? Was ist an diesem Glauben so gut, dass man selbst als Nichtchrist nicht darauf verzichten möchte?

Wenn wir jetzt Vorschläge sammeln würden: Es wären sicher vor allem ethische Imperative, die den Schiffbruch überleben würden: Liebt einander. Haltet Frieden. Hasst nicht. Überwin-det das Böse mit Gutem. Es wäre wohl auch etwas Hoffnung dabei: Wird schon gut ausgehen. You never walk alone. Bleib behütet. Das sind gute Überzeugungen, und ich hoffe, das eine und andere davon bleibt auch mir erhalten, sollte mein Glauben einmal verloren gehen. Aber noch eine weitere Überzeugung möchte ich nicht aufgeben, und wenn sie eine bloße Idee bleibt: Es muss irgendwann, irgendwo die Gerechtigkeit das letzte Wort haben. Es muss doch einmal geklärt werden, was Recht und was Unrecht war auf dieser Welt. Es sollte - wenn Sie gestatten: Es müsste doch am Ende dieser Welt ein Gericht geben, selbst wenn es keinen Gott gäbe. Ich gebe zu: Ausgerechnet das Jüngste Gericht retten zu wollen, wenn der Glaube Schiffbruch erleidet, ist ein ungewöhnlicher Gedanke. Viele Predigten geben sich ja redlich Mühe, diese Vorstellung bei den Christen über Bord zu werfen. Und wenn man in die Geschichte christlicher Frömmigkeit schaut, ist das auch gut verständlich: Zu viel Schindluder hat man mit dem Gericht getrieben, zu vielen Menschen damit gedroht und sie an der kurzen Leine gehalten, und viel zu oft war das mit sadistischer Lust ausgemalte Gericht eine Projek-tionsfläche von Rachewünschen. Oh weh dem Menschen, welcher hat / des Herren Wort ver-achtet; / in seinem Leben früh und spat / nach großem Gut getrachtet! / Er wird fürwahr gar schlecht bestehn / und mit dem Satan müssen gehen / von Christus in die Hölle: Man kann das wunderbar als zynisches Spottlied singen. Man müsste dann allerdings nach diesem Vers auf-hören, und ich glaube, es war tatsächlich das Schicksal des Gerichtsgedankens, dass man ihn verkürzt hat auf die brutale Alternative von erlöst oder verdammt, gerettet oder gerichtet, Himmel oder Hölle, ewiges Leben oder ewiger Tod. Darüber gerät aber Entscheidendes aus dem Blick, etwas, was wir selbst dann festhalten sollten, wenn uns unser Gottvertrauen oder der Glaube an ein Leben nach dem Tod abhanden kommt: Es gibt Recht und Unrecht - und es gibt einen Tag nach allen Tagen, an dem Recht und Unrecht geordnet und benannt werden. Auf diesen Gedanken sollten wir nicht verzichten, weil das Unrecht durchaus nicht von selbst vergeht und oft genug das letzte Wort hat. Auf diese Idee dürfen wir nicht verzichten schon um jener Menschen willen, die auf dieser Welt um ihr Recht gebracht werden. Und auf diesen Gedanken will ich nicht verzichten im Blick auf die vielen Situationen in der Welt und im eigenen Leben, in denen Recht und Unrecht unentwirrbar nebeneinander liegen. Es gibt mani-festes Unrecht, das endlich einmal öffentlich und rechtsgültig als Unrecht benannt werden müsste. Aber viel mehr Unrecht wird ja begangen in der Überzeugung, das Rechte zu tun - und mit allem guten Willen lässt sich irgendwann das eine nicht mehr vom anderen scheiden. Für Kinder ist das noch sehr einfach: Wer angreift, hat Unrecht; wer sich verteidigt, ist im Recht. Eine herrlich moralische Unterscheidung, die auch den politischen Diskurs bestimmt: Es gibt weltweit keine Kriegs- sondern nur noch Verteidigungsministerien, und jede Aufrüs-tung ist selbstverständlich defensiv. Sicherer ist die Welt aber davon nicht geworden. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein Musterbeispiel dafür, wie das Recht auf Selbstver-teidigung, auf das sich beide Seiten durchaus zu Recht berufen, einen nunmehr hundertjähri-gen Konflikt am Leben hält, in dem doch viel Unrecht geschieht: Man reagiert ja nur auf die Reaktion auf die Reaktion, und wer agiert und wer reagiert, ist allein eine Frage der Inter-punktion, die längst nicht mehr seriös beantwortbar ist. Wo hört das Recht auf, wo fängt das Unrecht an? Wo läuft die Grenze zwischen Recht Haben und Rechthabern? Wo, andererseits, führt lammfrommes Nachgeben dazu, dass Unrecht sich ungehemmt ausdehnt? Man kann das selbst im Rahmen des eigenen Lebens nicht trennscharf unterscheiden und sich nur pragma-tisch dazu verhalten: Mal durch Nachgeben, mal durch Insistieren; manchmal zuversichtlich, das Richtige zu tun und manchmal in der vagen Hoffnung, es könnte nicht ganz verkehrt sein. Selbst wenn es kein ewiges Leben gibt: Den einen Tag nach meinem Tod möchte ich gerne noch erleben, den einen Tag, an dem Recht und Unrecht endlich klar zutage treten. Und selbst wenn es keinen Gott gibt, so muss es doch irgendeinen geben, der Recht und Unrecht am En-de unterscheiden kann.

Sie kennen dazu die Vorstellung unserer religiösen Tradition: Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist jener Richter, der zwischen Recht und Unrecht final unterscheidet. Sie kennen vielleicht auch das Jüngste Gericht aus der Sixtinischen Kapelle, im Zentrum Mi-chelangelos ziemlich brutaler Christus mit alten Narben an Händen und Füßen, der mit wü-tender Geste Menschen in die Hölle schickt. Aber das verpasst gerade die Pointe der Aussage: Da richtet kein unbestechlicher Jurist, sondern ein versehrter, ein vom Leid gezeichneter Mensch. Fra Angelico, der feinsinnige Maler, hat das offensichtlich besser verstanden. Gut 50 Jahre vor Michelangelo malt er ein Weltgericht auf eine kleine Holztafel, die in Rom in der Galleria Corsini ausgestellt ist. Doch sein Christus trägt keine alten Narben, sondern offene Wunden an den Händen - und das Gewand hat in Höhe der Seitenwunde sogar einen frischen Blutfleck. O Jesu, hilf zur selben Zeit / von wegen deiner Wunden / dass ich im Buch der Seligkeit / werd angezeichnet funden: Recht und Unrecht sollen von einem gesprochen werden, der selbst vom Leid berührt und gezeichnet ist. Die traditionelle Theologie hat jenes Leid, das Christus widerfahren ist, als Sühne für unsere Schuld verstanden: du hast ja den Feind gericht' / und meine Schuld bezahlet. So mag man es verstehen und darum den Richter bald wie Bartholomäus Ringwaldt mit Worten und bald wie Fra Angelico mit einem roten Pinsel an seine Wunden erinnern. Wenn aber unser Glaube eines Tages Schiffbruch erleiden sollte, wenn uns wenig bliebe außer der Hoffnung, dass Recht und Unrecht endlich einmal benannt und geschieden werden: Dann soll doch der, der das tut, der das Recht aufrichtet und das Unrecht zu Ende bringt, ein Mensch sein, der selbst nicht unbeschädigt durch diese Welt gegangen ist. Amen.

Prof. Dr. Frank M. Lütze, Institut für Religionspädagogik, frank.luetze@uni-leipzig.de