Motettenansprache

  • 17.11.2017
  • Pfarrerin Jutta Michael

Ansprache zum Wochenspruch:„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist die Zeit des Heils." 2. Korinther 6,2b

Liebe Motettenbesucher,mit welcher Grundstimmung sind Sie zur Motette gekommen? Sie haben sich vielleicht mit Ihren Einkaufstaschen mehr oder weniger in die Thomaskirche verirrt. Die Tür steht offen, Licht, dass durch die Fenster nach draußen scheint, lädt ein einzutreten.Oder vielleicht haben Sie sich schon lange vorgenommen, endlich mal wieder in eine Kirche zu gehen, da kam Ihnen das kurzweilige Programm der Freitagsmotette gerade recht.Vielleicht sind Sie in Leipzig zu Gast, da gehört die Thomaskirche als Bachs Wirkungsstätte unbedingt ins Programm.Oder Sie wollen gerade heute und hier diesen Chor hören. Das haben Sie sich vorgenommen und nun ist es soweit.Wie auch immer: Es ist Ihre Zeit. Nun sitzen Sie hier und es ist gut. Sie haben für sich selbst diesen Augenblick gewählt. Sie lassen sich darauf ein und genießen die Zeit.Und später, nach solchen Momenten, da sagen wir uns: Man müsste das viel häufiger machen. Das tut so gut. Das fühlt sich gut an, echt. Wir lassen für den Moment das Beobachten, Vergleichen und Abwägen. Schön, wenn das ab und an gelingt. Wovon hängt es ab, wie wir unsere eigene Zeit empfinden?Wie wir selbst gestimmt sind? Was uns geschieht? Was uns gelingt?

Woraus leiten wir die Einschätzung unserer Zeit, des Momentes ab?
Die Beschreibung, die uns mit dem Wochenspruch mitgeben ist, finde ich bemerkenswert.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist die Zeit des Heils." 2. Korinther 6,2b
So qualifiziert der Apostel Paulus seine Lebenszeit.
Bemerkenswert ist, dass er das Maß der Bewertung nicht aus sich nimmt.
Es geht nicht darum wie sich jemand fühlt oder die Lage einschätzt.
Gnade und Heil: Paulus erfährt das als Geschenk im Glauben. Nichts davon ist sein Verdienst.
Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth.
Seine Briefe sind Teil des Gesprächs, das er mit den Menschen in den Gemeinden führte, die er gegründet hat. Sie nannten sich Christen.
Die Botschaft, dass Gott sich neu und nahe den Menschen zeigt, hatte sie erreicht und verbreitete sich unter ihnen als die Gute Nachricht.
Was aber ist nun anders, wenn die Menschen in Korinth, die Adressanten des Briefes, in Christus leben?
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist die Zeit des Heils."
So erklärte es ihnen Paulus:
Ihr seid wie neu geboren und doch der Welt nicht entrückt.
Nichts wird sich ändern, und doch ist alles anders.
Schönes und Schweres bleiben nebeneinander stehen.
Aber die Perspektive ist eine neue: Gnade und Heil werden erkannt als der Grund unseres Seins.
Wir nähern uns dem Ende des Kirchenjahres.
Diese Zeit erinnert uns daran, dass das Leiden zum Leben gehört.
Wir gedenken der Verstorbenen und unserer eigenen Endlichkeit.
Schmerzlich erfahren wir, dass dies eben auch zum Leben gehört.
Paulus blendet diese Seite nicht aus.
Zum Zeitpunkt, da er diese Zeilen an die Gemeinde in Korinth schrieb, wurde er für seinen Glauben schwer bedrängt.
Und dennoch deutet und empfindet er die Gegenwart als eine Zeit der Gnade.
Und er lädt dazu ein, so auf das Leben zu sehen.
Leiden trennt nicht von Gott.
Gott ist nicht nur bei jenen, denen es gut geht.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!"

Im Licht des Glaubens stellt sich die Welt anders dar - auch wenn alles einzelne in dieser Welt ganz gleich bleibt.
Auch für die Glaubenden verschwinden die Leiden ja nicht einfach.
Wir bleiben als Glaubende Menschen, und nichts von dem, was das Menschenleben schwer macht, bleibt uns erspart.
Aber dennoch ist im Glauben unsere grundlegende Lebensstimmung eine andere.
Der Glaube verändert die Wahrnehmung der Gegenwart.
Sie wird zur Zeit der Gnade. Sie füllt alles aus weil sie alles ist.
Jeder heutige Tag wird zum Tag des Heils, auch wenn die Probleme nicht einfach verschwinden.
Weil ich glaube - davon überzeugt bin, dass Gott auf meiner Seite steht.
Auf der Seite gelingenden Lebens. Auf der Seite von Tost und Vergeben, Auf der Seite von Verzeihen und Umarmen.
Auf meiner inneren Seite der Liebe, um sie stark zu machen gegen alles Destruktive in mir und in der Welt.
Gnade ist die Verbindungstreppe zwischen Himmel und Erde.
Mit Gnade fasst das Neue Testament alles zusammen, was Gott uns in Jesus schenkt.
In ihm hat sich Gottes Gnade wahrhaft gezeigt.
Deshalb nehmen wir das für wahr.
Jesus schenkt uns seine Liebe. Er vergibt und öffnet damit eine verfahrene Situation.
Er macht Mut, denn die Angst ist ihm nicht gewachsen.
Er erneuert und braucht dazu nichts anderes als das ganz normale Leben eines jeden - all das ist Gnade.
Ob ich das jeden Trag so empfinden kann? Sicher kann das niemand. Es zu müssen hieße schon wieder, darin nicht frei zu sein.
Aus der Gnade leben heißt, sich diese schenken zu lassen.
Es heißt, das, was immer da ist, anzunehmen, wann immer und wo immer es mir möglich ist.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!"
Amen

Pfarrerin Jutta Michael