Motettenansprache

  • 11.11.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Orgelvesper zum Martinstag

Liebe Motettengemeinde,
heute ist der 11. November, der Martinstag, Tauftag Martin Luthers, der nach dem berühmten Martin von Tour Martin genannt worden ist. Sie kennen vielleicht seine Legende, die damit beginnt, dass Martin als römischer Soldat vor dem Stadttor von Amiens seinen Umhang mit einem Bettler teilt. Er nimmt sein Schwert dafür. Eine einfache Geste - und doch eine große. Nichts ist leichter für einen erprobten Waffenträger, als das Schwert zu führen, nichts aber ist schwerer, als damit Gutes zu tun. Wir haben das gerade in der vergangenen Woche wieder erlebt als Grundproblem bei dem schrecklichen Unglück in einer Kirche in Texas: Kann mit Waffen wirklich Gutes erreicht werden? In diesem Fall ist daraus eine Schlüsselszene christlicher Barmherzigkeit geworden. Denn unmittelbar angerührt von der Not, die ihm ins Auge sprang, tat Martin etwas Hilfreiches, ohne lange die Folgen abzuwägen. Er vertröstete den Bettler nicht auf die nahegelegene Stadt, in der es Hospitäler und Armenfürsorge gäbe, verwies auch nicht auf die Kälte, der er selbst ausgesetzt sei, würde er seinen Mantel abgeben, sondern er handelte, wie es ihm spontan und unabweisbar geboten schien: Er zeigte Menschlichkeit. Und so können wir uns in ihm alle wiederentdecken, ob wir der Kirche verbunden sind oder nicht. Denn es geht um Menschlichkeit, die keine langen Begründungen braucht, sondern die tut, was die schlimmste Not abwendet.

Natürlich kann man immer genügend Gründe finden, warum die Tat des Heiligen Martin so vorbildlich denn doch nicht sei. Es stimmt ja: Die Verhältnisse hat er nicht mit seinem Hieb geändert. Soldat bleibt Soldat, und Bettler bleibt Bettler. Oben und unten kehrt sich nicht um. Mit einer gehörigen Portion Zynismus spottet Bertold Brecht darüber, wenn er Mutter Courage und den Koch singen lässt: "Der heilige Martin, wie ihr wisst Ertrug nicht fremde Not. Er sah im Schnee ein armen Mann Und er bot seinen halben Mantel ihm an Da frorn sie alle beid zu Tod. Der Mann sah nicht auf irdischen Lohn! Und seht, da war es noch nicht Nacht Da sah die Welt die Folgen schon: Selbstlosigkeit hatt‘ ihn so weit gebracht! Beneidenswert, wer frei davon!" "Ja", sagt Bertold Brecht, "die Selbstlosigkeit ist eine seltene Tugend, weil sie sich nicht rentiert." Ein Tölpel also, der Heilige Martin, nur weil er menschlich war, selbstlos menschlich? Ist unser Tun nur sinnvoll, wenn sich die Folgen gründlich abschätzen lassen oder wenn es sich „rentiert"? Sind wir alle letztlich doch nur große Egoisten?

Wir müssen Bertold Brecht widersprechen. Der Heilige Martin ist nicht erfroren. Beide haben überlebt. Menschlichkeit hat ihren Sinn in sich, auch wenn sie uns etwas kostet und wir dafür keinen zählbaren Gegenwert erhalten. Die einfache Geste überzeugt noch mehr als alle Strategien zur Linderung menschlicher Not. Sie spricht für sich. Damit aber sind wir von Amiens in unsere Gegenwart gekommen. Was damals vor den Toren aufeinander traf, gibt es immer noch. Vielleicht nicht in jenem himmelschreienden Elend, wie damals. Aber Armut begegnet uns, wenn wir nur die Augen recht öffnen: offene Armut, versteckte Armut in einem der reichsten Länder - immer mehr. Und im Geheimen spüren wir vielleicht sogar, dass uns über allen Fragen nach angemessenen Leistungen nach Hartz IV die einfachen Gesten abhandengekommen sind: die unmittelbare, helfende, die bedenkenlose Tat. Martin kann uns nicht nur zum Vorbild werden, weil er auf eigenes Risiko hin seinen Umhang zerteilte, sondern er ist vor allem deshalb beispielhaft, weil er die Not überhaupt in den Blick nahm - weil er hinsah und stehen blieb. So beginnt wahre Menschlichkeit: wenn wir andere als Menschen wahrnehmen. Die Versorgung mit dem Nötigsten und Dringendsten folgt fast wie von selbst. Dann werden kleine Gesten zu großen Gesten - denn sie werden zu Gesten von Mensch zu Mensch.
In der folgenden Nacht, so die Legende, erschien Christus dem Martin im Traum. Erst da erfuhr er den tieferen Sinn seiner Menschlichkeit: dass nämlich dort, wo wir einander menschlich begegnen, Christus gegenwärtig ist, ohne dass wir ihn sehen. Erst im Rückblick wurde das deutlich, am Anfang aber steht die Menschlichkeit um der Menschen willen - damals wie heute. einfache Taten der Menschlichkeit. Sie rentieren sich - das lehrt uns die Erinnerung an den Heiligen Martin. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche