Motettenansprache

  • 04.11.2017

In dieser Motette wurde das Werk "Into the Light" von Jake Runestad (*1986) durch den Valparaiso University Chorale und das Leipziger Barockorchester unter der Leitung von Christopher M. Cock uraufgeführt. Es ist ein Auftragswerk der Valparaiso University zur 500-Jahr-Feier der Reformation (2017).

Jake Runestad
(* 20.5.1986, Rockford/Illinois)

Into the Light
für gemischten Chor und Kammerorchester • Auftragswerk der Valparaiso University
zur 500-Jahr-Feier der Reformation (2017)

I. THE UNIVERSE OF LIGHT
Come out into the universe of light.
Everything in the universe is yours,
stretch out your arms and embrace it with love.
Swami Vivekananda
I. DIE WELT DES LICHTES
Kommt heraus in die Welt des Lichtes.
Alles in der Welt gehört euch,
breitet eure Arme aus und umfangt es mit Liebe.

You are a product of your thoughts.
What you think, you become.
Mahatma Gandhi Du bist ein Werk deiner Gedanken.
Was du glaubst, das wirst du.

II. THE LIGHTLESS DARK
The only lightless dark
is the night of ignorance.
We differ from one another,
not in our senses, but in the use
we make of them.
Helen Keller
II. DAS LICHTLOSE DUNKEL
Das einzige lichtlose Dunkel
ist die Nacht der Unkenntnis.
Wir unterscheiden uns voneinander
nicht in unseren Sinnen, sondern im Gebrauch,
den wir von ihnen machen.

III. THE WARM FOGS OF FEAR
The ice under us is very thin, and is made weak
by the warm fogs of fear.
Frederick Douglass
III. DIE WARMEN NEBEL DER FURCHT
Das Eis unter uns ist sehr dünn und zerbrechlich gemacht durch die warmen Nebel der Furcht.

We are driven by love or by fear.
I fear you, for I do not know you.
after Martin Luther King Jr.
Wir sind getrieben von der Liebe oder der Angst.
Ich fürchte dich, denn ich kenne dich nicht.

There is no fear in love, but
perfect love drives out fear.
John the Evangelist
Es ist keine Furcht in der Liebe, sondern
die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.
1. Johannes 4:17b-18a

IV. FLOWER INTO KINDNESS
The soul is made of love
and must ever return to love.
There is nothing so wise, nor so beautiful,
nor so strong as love.
Mechthild von Magdeburg
IV. BLÜHEN IN GÜTE
Die Seele ist gemachet von der Minne
und nichts mag ihr nützen als allein die Minne.
Es ist nichts also weise, noch also schöne,
noch also stark als die Minne.
Mechthild von Magdeburg

Above all, love. Peter the Apostle
Vor allen Dingen, liebt. 1. Petrus 4:8a

I shed my words on the earth
as the tree sheds its leaves.
Let my thoughts unspoken
flower into kindness.
Rabindranath Tagore
Ich verstreue meine Worte auf der Erde,
wie der Baum sein Laub abwirft.
Laß meine Gedanken unausgesprochen
blühen in Güte.

V. INTO THE LIGHT
We are not yet what we shall be,
but we are growing toward it.
Martin Luther
V. INS LICHT
Wir sind's noch nicht,
wir werden's aber.
Martin Luther, 1520
Come out into the universe of light.
Everything in the universe is yours,
stretch out your arms and embrace it with love. Swami Vivekananda
Kommt heraus in die Welt des Lichtes.
Alles in der Welt gehört euch,
breitet eure Arme aus und umfangt es mit Liebe.

BWV 79 Gott der Herr ist Sonn und Schild

1. Coro
Corno I/II, Tamburi, Flauto traverso I/II, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Gott der Herr ist Sonn und Schild. Der Herr gibt Gnade und Ehre, er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.

2. Aria A
Oboe solo (o, Flauto traverso solo), Continuo
Gott ist unsre Sonn und Schild!
Darum rühmet dessen Güte
Unser dankbares Gemüte,
Die er für sein Häuflein hegt.
Denn er will uns ferner schützen,
Ob die Feinde Pfeile schnitzen
Und ein Lästerhund gleich billt.

3. Choral
Corno I/II, Tamburi, Flauto traverso I/II e Oboe I/II e Violino I col Soprano, Violino II coll' Alto, Viola col Tenore, Continuo
Nun danket alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen,
Der große Dinge tut
An uns und allen Enden,
Der uns von Mutterleib
Und Kindesbeinen an
Unzählig viel zugut
Und noch itzund getan.

4. Recitativo B
Continuo
Gottlob, wir wissen
Den rechten Weg zur Seligkeit;
Denn, Jesu, du hast ihn uns durch dein Wort gewiesen,
Drum bleibt dein Name jederzeit gepriesen.
Weil aber viele noch
Zu dieser Zeit
An fremdem Joch
Aus Blindheit ziehen müssen,
Ach! so erbarme dich
Auch ihrer gnädiglich,
Dass sie den rechten Weg erkennen
Und dich bloß ihren Mittler nennen.

5. Aria (Duetto) S B
Violino I/II, Continuo
Gott, ach Gott, verlass die Deinen
Nimmermehr!
Lass dein Wort uns helle scheinen;
Obgleich sehr
Wider uns die Feinde toben,
So soll unser Mund dich loben.

6. Choral
Corno I/II, Tamburi, Flauto traverso I/II e Oboe I/II e Violino I col Soprano, Violino II coll' Alto, Viola col Tenore, Continuo
Erhalt uns in der Wahrheit,
Gib ewigliche Freiheit,
Zu preisen deinen Namen
Durch Jesum Christum. Amen.
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Besetzung Soli: S A B, Coro: S A T B, Corno I/II, Tamburi, Flauto traverso I/II, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Entstehungszeit 31. Oktober 1725
Text unbekannter Dichter; 1: Psalm 84,12; 3: Martin Rinckart 1636; 6: Ludwig Helmbold 1575
Anlass Reformation (31. Oktober)

Liebe Motettengemeinde,
zum 500jährigen Gedenken der Reformation war der Reformationstag ein bundesweiter Feiertag. Ein bemerkenswertes Zeichen, da man offensichtlich weithin sieht, dass es für uns heute immer noch wichtige Impulse aus der Reformation heraus gibt, über die es sich nachzudenken lohnt, nicht nur als einzelne, sondern als Gesellschaft.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm hat in seiner Predigt im zentralen Gedenkgottesdienst in der Wittenberger Schlosskirche dazu z.B. folgendes gesagt:

„Weder Obergrenzen für die Unterstützung von Menschen in Not helfen diesem Land noch moralische Durchhalteparolen. Was dieses Land braucht, ist eine neue innere Freiheit. Was dieses Land braucht, ist eine Kraft, die die Angst überwindet und die Liebe stärkt. Was dieses Land braucht, ist der Geist, der der Schwachheit aufhilft...
Für seine Überzeugungen einzustehen, sich nicht aus der Wut, sondern aus innerer Freiheit in die öffentlichen Debatten einzumischen, diese Haltung braucht unser Land. Diese Freiheit tut unserem Land gut!"

Woher aber kann eine solche neue innere Freiheit kommen? Ich habe den Eindruck, dass wir in diesem Jubiläumsjahr darüber mehr hätten reden und diskutieren können. Aber es ist eigentlich natürlich ein Thema für immer, vielleicht für 2018 noch mehr. Wie kommen wir gemeinsam zu mehr innerer Freiheit, die uns gestalten hilft, die unsere Phantasie und unseren Mut stärker sein lässt als unsere Ängste und Befürchtungen?

Wir freuen uns, dass wir in dieser Motette zwei Werke hören können, in denen uns reichlich Nahrung für dieses Nachdenken gegeben wird. In dem für das Reformationsjubiläum komponierte und heute durch die Valparasio Chorale und das Leipziger Barockorchester uraufgeführte Stück des amerikanischen Komponisten Jake Runestad „Into the light." - Ins Licht.

Schon die Auswahl der Texte zeigt diesen Weg, wie dieser Freiheitsgedanke der Reformatoren ans Licht kommen kann. Es sind nicht nur Texte aus der christlichen Tradition. Dennoch ist der Duktus ganz und gar biblisch, indem er bei dem Thema ansetzt, das Jesus selbst in den Mittelpunkt seiner Verkündigung gerückt hat. Auf die Frage, wie man denn „selig" (innerlich frei) werden könne, hat er immer wieder geantwortet: „Indem Du Gott liebst und Deinen Nächsten wie Dich selbst, das ist das ganze Gesetz und die Propheten." Zugespitzt lässt sich sagen: Nach Jesus hängen Freiheit und Liebe zusammen - nicht Freiheit und Moral. Die Liebe - unsere Fähigkeit zu lieben und diese Liebe gelten zu lassen, wird letztlich darüber bestimmen, ob wir frei sind oder nicht - und nicht die Qualität unserer Moral.

Und so heißt es auch im dritten Teil des Werks in einem Text nach Martin Luther King:
„Wir sind getrieben von der Liebe oder der Angst. Ich fürchte dich, denn ich kenne dich nicht."
Und im ersten Johannesbrief:
„Es ist keine Furcht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus."
Und im 1. Petrusbrief heißt es:
„Vor allen Dingen, liebt."

Man kann ja durchaus mal fragen in der Woche des Reformationsfests, wo wir des Thesenanschlags Luthers gedenken, der mit einem Aufruf zur Buße bzw. zur Besinnung verknüpft ist: Wie ist es bei uns da bestellt im Moment: Sind wir eine lieblose Gesellschaft? Hat unser Mangel an innerer Freiheit - da hat Heinrich Bedford-Strohm m.E. schon Recht - damit zu tun, dass wir schlicht und ergreifend zu wenig lieben bzw. zu wenig fähig zur Liebe sind? Und dass uns deshalb unsere Angst und Furcht viel zu schnell beherrschen? Liebe ist nach biblischem Verständnis dabei erst einmal etwas anderes und weitergehendes als ein Gefühl. Liebe oder gar Verliebtsein - das hat in unserer Sprache mit inneren Gefühlen zu tun, mit Zuneigung, mit Sympathie. Biblisch gesehen gibt es aber eine Bedeutung über diese Engführung hinaus: Es geht nicht um das Gefühl, sondern um das, was Sympathie wörtlich übersetzt, eigentlich bedeutet. Es heißt: Mit-Leiden. Inwiefern bin ich fähig, mit meinem Gegenüber mit zu leiden? Es ist eigentlich ein ganz emotionsloses Verständnis von Liebe, das darauf beruht, ob ich mir vorstellen kann, wie es ihm geht. Ob ich in der Lage bin, mich in sein Leid zu versetzen. Nein, ich muss ihn nicht mögen, diesen, meinen Nächsten. Das verlangt niemand, auch Jesus nicht. Wir sollen ihn nur lieben, aber wir müssen ihn nicht mögen. Aber das genau ist es, was uns viel freier macht: Ich kann auch den, den ich nicht mag, anständig behandeln, nämlich wie einen Menschen, der in wesentlichen Dingen mir ähnlich ist und ähnlich fühlt - ohne dass ich mich verbiegen muss. Was geschehen kann in einer Gesellschaft, in der sich dieses Denken durchsetzt, zeigt das Wort von Martin Luther King, das ebenfalls ein starkes Gewicht im Werk von Jake Runestad hat: „Wir sind getrieben von der Liebe oder der Angst. Ich fürchte dich, denn ich kenne dich nicht."

Wer von der Liebe getrieben ist, wird die Furcht vor dem anderen abbauen können und auf ihn zugehen. Er wird freier sein auch von der Angst um sich selbst.

In der Kantate von Johann Sebastian Bach, die wir gleich hören, heißt es dazu im Rezitativ des Basses: „Gottlob, wir wissen den rechten Weg zur Seligkeit; denn, Jesu , du hast ihn uns durch dein Wort gewiesen, drum bleibt dein Namen jederzeit gepriesen." Und auch, wenn die Fortsetzung in unseren Ohren heute etwas von oben herab klingen mag oder zu selbstgewiss, viel zu selbstgewiss, so mag es doch ein wirklicher Wunsch sein, dass auch der andere zu seiner Seelenruhe findet, zu seiner Mitte oder eben auch zum Bewusstsein dafür, dass er sein Leben dankbar als befreiter und zur Liebe befähigter Mensch gestalten kann: „Ach! So erbarme dich auch ihrer gnädiglich, dass sie den rechten Weg erkennen. Und dich bloß ihren Mittler nennen." So mögen uns diese beiden Werke von Runestad und Bach Anregung bieten für das, wozu wir nach reformatorischer Einsicht berufen sind: uns als freie Menschen Gedanken zu machen um das, was allen gut tut und allen zum Besten dient. Damit werden wir nie fertig sein - aber hier, in diesen Werken, können wir Ermutigung finden, auf dem Weg zu bleiben. Amen.

Gebet
Herr, unser Gott!
Auch dieser Tag ist belastet mit Unfrieden.
Wir tragen selbst dazu bei, dass Angst, Vergeltung und Gewalt von neuem mächtig werden.
Wir bitten: lass uns mutiger bekennen,
treuer beten, fröhlicher glauben, brennender lieben;
Herr, schenke uns einen neuen Anfang
und gib der Welt deinen Frieden. Ohne dich können wir nichts tun. Herr, erhöre uns!
Stille
Verleih uns Frieden gnädiglich.
Du bist unser Friede.
Dieser Tag steht in deinen Händen. (EG 826)

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org