Motettenansprache
- 27.10.2017
- Pfarrerin Taddiken
Heinrich Poos (geb. 1928)
Die Zeit, die bleibt... - Ein Stundenbuch (2017)
Fragmente einer großen Konfession
für Chor, Violoncello, Kontrabass und Orgel
I. Teil
Intonation:
Primum quaerite regnum Dei. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes.
Matthäus 6,33
Da er aber gefragt ward von den Pharisäern:
Wann kommt das Reich Gottes, antwortete er ihnen und sprach:
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden;
man wird auch nicht sagen: Sieh' hier! oder, Da ist es!
Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.
Lukas 17,20-21
II. Teil
Intonation:
Hoc est primum mandatum. Dies ist das erste Gebot.
Secundum autem simile est huic: Das andre ist dies:
diliges proximum tuum tam „Du sollst deinen Nächsten lieben
quam te ipsum. wie dich selbst".
Markus 12,31
Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge,
sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.
1. Johannes 3,18
Liebe Motettengemeinde,
ein neues Werk haben wir gehört, 2017 komponiert, im Jahr des Reformationsgedenkens, Fragmente einer großen Konfession, also eines Bekenntnisses.
Worum geht es in diesem Jahr, wenn wir bedenken, was uns die Reformation heute noch zu sagen hat? Ich weiß nicht, ob der Komponist diese Absicht hatte, aber ich versuche seine Zusammenstellung von biblischen Worten mal so zu verstehen, auch darauf eine Antwort zu geben, zumindest ein Bekenntnis zu dem, was uns heute im Jahr 2017 besonders angeht - und wo wir gut daran tun, wenn wir in unser Nachdenken einige Impulse der Reformation aufnehmen.
Da ist erst einmal die Aufforderung Jesu: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes." Der Satz geht bekanntlich noch weiter: „... so wird Euch dies alles zufallen." Gemeint sind allerlei Dinge, die wir zwar zum Leben brauchen, aber die uns nicht aus sich heraus glücklich machen: Besitz, Eigentum, alles Mögliche. Und noch elementarer: Es ist schlicht die Frage: Was, lieber Mensch, ist Dir denn wirklich wichtig in Deinem Leben?
Dass der Mensch - und zwar jeder einzelne - reif genug und in der Lage ist, diese Frage für sich zu beantworten, das war ein wichtiges Anliegen Luthers. An diesem Punkt hatte er das gesamte mittelalterliche Denken auf den Kopf gestellt: Es war die Entdeckung der Gottesunmittelbarkeit des einzelnen Menschen. Der einzelne, der zu diesen geistlichen Entscheidungen nicht nur fähig, sondern auch von Gott gefordert ist: Lieber Mensch, woran hängst Du Dein Herz? Die Beantwortung dieser Frage nimmt uns niemand ab. Luther selbst hat dabei immer einen Fingerzeig auf Jesus selbst parat: Sie kennen vielleicht den Cranach-Altar aus der Stadtkirche in Wittenberg, wo Luther mit langem Zeigefinger auf Christus weist.
Das ist in dem gerade gehörten Werk genauso. Ein Hinweis, auf das zu schauen, wozu Jesus rät: zu gucken, wo sich das Reich Gottes denn abspielt. Nämlich zwischen uns. In dem, wie wir miteinander umgehen als Menschen. „Das Reich Gottes ist inwendig in euch", hat Luther ursprünglich übersetzt, aber weniger missverständlich ist die Übersetzung „mitten unter Euch". Gottes Wille, sein Reich - oder zugespitzt - Gott selbst - vollzieht sich unter uns in dem, wie wir miteinander umgehen und wie wir uns gegenseitig behandeln. Da gibt er sich selbst hinein!
Das Werk von Heinrich Poos hat offenbar genau das im Blick, wenn der Komponist den zweiten Teil des jesuanischen Doppelgebotes der Liebe in den Blick nimmt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Dieses Gebot allerdings ist für Jesus selbst und auch für Luther immer verbunden mit dem Gebot der Gottesliebe: Gott lieben und Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Dieses Bekenntnis aber - und wir sind in einem Bekenntnis-Stück - beinhaltet, dass ich jeden Menschen, egal, woher er kommt und was er glaubt, erst einmal als ein Kind Gottes sehe, das sich auf der gleichen Stufe befindet wie ich selbst, mit gleicher Würde und mit gleichen Rechten ausgestattet wie ich selbst.
Das anzuerkennen ist jeden Tag von Neuem die Aufgabe, vor der ich stehe. Mit jedem Menschen, der mir begegnet, in der Familie, am Arbeitsplatz, auf der Straße und überhaupt. Eine schwere Aufgabe, da sie mich dazu auffordert, meinen Blick in bezug auf diejenigen zu weiten, die mir eben nicht sympathisch sind, die mir schwer auf dem Magen liegen und bei denen ich allzuoft nicht weiß, wie soll das denn werden mit uns. Der Impuls der Reformatoren heißt, Du „freier Mensch über alle Dinge und niemandem Untertan", habe keine Angst, Dich zum „Knecht aller und jedermann untertan" zu machen. Das war ja Luther berühmtes Diktum zur Freiheit eines Christenmenschen. Wer wirklich frei ist, wer wirklich weiß, woran er sein Herz hängt und woran auch nicht, der kann auch für den anderen da sein ohne Angst davor haben zu müssen, zu kurz zu kommen. Ergo: Er kann auch etwas tun.
Genau darauf aber läuft das Stück von Heinrich Poos zu: Es nicht bei Worten zu belassen, sondern „mit der Tat und der Wahrheit" zu lieben." Martin Luther hat gesagt: „Gute Werke machen nicht den befreiten Menschen, sondern der befreite Mensch macht gute Werke..." Darum ging es den Reformatoren. Um das Bewusstsein: Ich bin immer für mehr als nur für mich selbst verantwortlich. Das heißt auch, sich einzubringen ins öffentliche Leben. Und genau das ist letztlich, was heute und überhaupt immer nicht zuletzt unser demokratisch verfasstes Gemeinwesen braucht: Den Gestaltungswillen seiner Bürger oder, wenn man es mit Kant sagen will, das innere Pflichtgefühl dazu. Luther und die Reformatoren waren in ihrer Zeit natürlich weit weg von Demokratie und einem Verständnis davon, wie wir es davon haben - aber dieser Gedanke, dass aus echtem Glauben echte Werke folgen, spirch: die Bewegung weg von mir hin zum anderen, die kann m.E. doch ein wichtiger Impuls der Reformation sein. Noch einmal: Das reformatorische Menschenbild sieht Menschen als reif an, Entscheidungen treffen zu können ohne Angst vor Fehlern haben zu müssen. Es wollte das Bewusstsein stärken: Ein neuer Anfang ist immer möglich. Jeden Tag - solange wir zuerst nach dem Reich Gottes trachten. Amen.
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org
Gebet: Luthers Abendsegen