Motettenansprache

  • 31.03.2023
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 31. März 2023

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. 3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

 

Liebe Motettengemeinde,

wir haben eine wunderbare Vertonung des 23. Psalms von Louis Lewandowski gehört. Lewandowski hat in seinen Kompositionen traditionelle Melodien aus dem synagogalen Gottesdienst verbunden mit der Moderne des 19. Jahrhunderts. Und hat damit unterstrichen, wie sehr gerade der 23. Psalm Menschen durch alle Jahrhunderte anzusprechen weiß. Und zwar auch diejenigen, die diese Worte noch nie gehört haben. Sie haben eine eigene, einzigartige Kraft.

Wie stark die ist, wurde mir ganz zu Beginn meines Berufslebens klar. Eine ältere Frau war verstorben. Ich kam zum Beerdigungsgespräch. Die Frau war mit ihren kleinen Kindern aus Ostpreußen geflohen. Und diese nun erwachsenen Kinder zeigten mir den ganzen Schatz ihrer Mutter. Er bestand in einer schlichten Stickerei in einem schäbigen Glasrahmen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Dieses Bild hatte die Mutter durch die Flucht gerettet, alles durfte verloren gehen, das nicht. Es war ein Hochzeitsgeschenk. Und hing dann, angekommen am neuen Ort, ein Leben lang über ihrem Bett. Die Kinder sagten: Es hat ihr immer Kraft gegeben - an den guten und vor allem an den vielen, vielen schweren Tagen. Sie wusste: Solange es dieses Bild und solange es diesen Vers gibt, gibt es auch immer noch Hoffnung. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Wir haben uns dann lange unterhalten: Wer hat denn eigentlich wen gerettet? Die Mutter das Bild? Oder das Bild die Mutter?

Es war die Kraft dieser Worte. Spätestens seitdem ist mir klar, wie wichtig ist es, zumindest diesen Psalm auswendig zu können. Dass man Worte hat in einer Situation, wo man denkt: Jetzt gibt es eigentlich nichts mehr, was noch tragen könnte. Diese Worte tun es aber, vor allem im Moment. Wenn ein verstorbener Mensch noch einmal zum Abschied aufgebahrt wird und wir hören diese Worte - sofort löst sich das Grauen. Menschen können weinen, können hinschauen, ihren Lieben, ihre Liebe berühren. Es ist etwas im Raum, was ohne diesen Vers nicht dagewesen wäre. Etwas, was uns aufatmen lässt, etwas, was in uns etwas löst.

Aber was genau ist es? Es lässt sich schwer in Worte fassen. Vielleicht muss man es selbst fühlen in solch einer Situation. Die Berliner Pfarrerin Ulla Franken hat sich nach ihrer Krebsdiagnose intensiv mit Psalm 23 befasst und mit dem, was diese Worte in ihr auslösen. Offen spricht sie über ihre Zweifel. Aber auch darüber, dass sie über diese Worte einen Weg gefunden hat, mit dieser Krankheit zu leben. Vielleicht auch zu sterben - aber ohne dabei unterzugehen. Es war bei ihr wie bei der alten Frau: Solange es noch dieses Wort gibt, gibt es auch Hoffnung. Ulla Franken ist vor 23 Jahren an ihrer Krankheit gestorben. Getröstet und gewiss. Da war nichts von verlorenem Kampf, von dem man öfter liest in der Todesanzeige, wenn jemand nach längerer Krankheit gestorben ist. Sie hat ihre Gedanken aufgeschrieben. Vielleicht bewegen sie uns dazu, diesen Psalm auch für uns selbst einmal durchzugehen. Sie schreibt:

„Der HERR ist mein Hirte.“

An diesen fünf Worten versuche ich mich festzuhalten hier in dieser Röhre, damit ich nicht in Panik verfalle allein in dem engen und doch riesigen Gerät. Vor zehn Tagen habe ich die Diagnose bekommen: Brustkrebs, bösartig, drei Zentren in der rechten Brust, befallene Lymphdrüsen in der Achselhöhle. Jetzt sucht die Aufnahmeröhre über mir nach Metastasen in meinen Knochen. Das erste Mal seit diesen zehn Tagen bin ich wirklich allein. Nein, ich will dieses Wort nicht denken: allein. Und doch schleicht es sich in alle Sätze, die ich denken kann in dieser Situation. In einem findet das Schreckenswort keinen Platz: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“

Sätze über meine Zukunft werden unweigerlich zu Fragesätzen. Fragezeichen stehen auf einmal überall da, wo mir bis gerade eben die Punkte und Ausrufezeichen noch so sicher platziert schienen. „Mir wird nichts mangeln“: Fast erscheint mir dieser Satz zynisch. Denn es wird mir an einer Brust mangeln, sogar an der schöneren von meinen beiden. Es wird mir an Gesundheit mangeln, denn auch, wenn ich diese Krankheit besiege, werde ich mich nie wieder als so gesund ansehen können wie bisher. Es wird mir an Unbeschwertheit mangeln, an der Lebenslust, die die Realität, ja, sogar die Möglichkeit des Todes für Zeiten völlig vergessen lässt. Ob es sein kann, dass ich „Ich“ bleibe, neu werde trotz all dieser Mängel? Ob es sein kann, dass all diese Mängel sein können, ohne dass sie mein Leben, mein Ich-Sein, bestimmen? Dann wäre dieser Satz nicht mehr zynisch, dann wäre er ein Hoffnungssatz: „Mir wird nichts mangeln.“

„Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.“ 

In der Urlaubswoche vor der Operation kann ich das glauben. Auf der Decke im Gras neben meinem Mann kann ich es spüren und im weiten Blick über das Meer vor meiner geliebten Insel. Und doch bleiben Fragen. Warum trifft mich diese Krankheit? Warum tut mein Gott mir das an? Tut er mir das an, oder ist es jemand anderes, etwas anderes, was diese Krankheit zu verantworten hat? Bin ich es selbst, bin ich schuld? Oder ist er der, der mich verflucht? Dann will ich auch über Ihn fluchen können, gegen Ihn schreien, mich Seiner Führung verweigern. Lieber will ich glauben, dass mein Gott der Gott dieses Psalmverses ist, der, der mich in aller Not segnet mit seiner Kraft und den Genüssen seiner Schöpfung. Mein Gott soll Friede heißen, Gerechtigkeit, Trost, Leben, nicht Schuld, Strafe oder Fluch.

„Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“

Feinde – dieses Wort hatte ich aus meiner Sprache eigentlich gestrichen. Unbemerkt müssen sie mir schon Monate, vielleicht Jahre ganz nahe gewesen sein, hatten sich in mir, in meinem Körper eingenistet und ihn für ihre Zwecke missbraucht. Und doch waren sie nur auf Monitoren und unter Mikroskopen zu sehen. Wäre da nicht jetzt nach der Operation die lange Narbe, wo bisher meine rechte Brust war, wären diese Feinde immer noch unfassbar, unbegreiflich. Jetzt kann ich zumindest den Kampfplatz sehen und anfassen, die Wunden fühlen und betrauern, den Verlust begreifen: meine Feinde haben ein Angesicht bekommen. Und mit jedem Mal, wo sie sich nicht mehr verstecken können, bin ich dem Sieg über sie ein Stück nähergekommen.            

Viele liebe Menschen haben an mich gedacht in den letzten Monaten, viel Gutes und Barmherzigkeit haben mich begleitet. Wie sehr dies alles geholfen hat zum Leben und Standhalten, können die einzelnen vielleicht gar nicht ermessen. Und doch war mir jedes dieser Worte ein Wahrheitszeichen dieser großen Hoffnung und Zusage und wird es mir weiterhin sein auf dem Weg, der noch zurückzulegen ist: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“

Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org