Motettenansprache
- 23.09.2017
- Pfarrerin Taddiken
Johann Sebastian Bach, Kantate BWV 138 Warum betrübst Du Dich, mein Herz? 1. Coro e Recitativo A Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, Continuo Warum betrübst du dich, mein Herz?Bekümmerst dich und trägest SchmerzNur um das zeitliche Gut?Ach, ich bin arm,Mich drücken schwere Sorgen.Vom Abend bis zum MorgenWährt meine liebe Not.Dass Gott erbarm!Wer wird mich noch erlösenVom Leibe dieser bösenUnd argen Welt?Wie elend ist's um mich bestellt!Ach! wär ich doch nur tot!Vertrau du deinem Herren Gott,Der alle Ding erschaffen hat. 2. Recitativo B Continuo Ich bin veracht',Der Herr hat mich zum LeidenAm Tage seines Zorns gemacht;Der Vorrat, hauszuhalten,Ist ziemlich klein;Man schenkt mir vor den Wein der FreudenDen bittern Kelch der Tränen ein.Wie kann ich nun mein Amt mit Ruh verwalten,Wenn Seufzer meine Speise und Tränen das Getränke sein? 3. Coro e Recitativo S A Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, Continuo Er kann und will dich lassen nicht, Er weiß gar wohl, was dir gebricht,Himmel und Erd ist sein!SopranAch, wie?Gott sorget freilich für das Vieh,Er gibt den Vögeln seine Speise,Er sättiget die jungen Raben,Nur ich, ich weiß nicht, auf was WeiseIch armes KindMein bisschen Brot soll haben;Wo ist jemand, der sich zu meiner Rettung findt?Dein Vater und dein Herre Gott,Der dir beisteht in aller Not.AltIch bin verlassen,Es scheint,Als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen,Da er's doch immer gut mit mir gemeint.Ach Sorgen,Werdet ihr denn alle MorgenUnd alle Tage wieder neu?So klag ich immerfort;Ach! Armut, hartes Wort,Wer steht mir denn in meinem Kummer bei?Dein Vater und dein Herre Gott,Der steht dir bei in aller Not. 4. Recitativo T Continuo Ach süßer Trost! Wenn Gott mich nicht verlassenUnd nicht versäumen will,So kann ich in der StillUnd in Geduld mich fassen.Die Welt mag immerhin mich hassen,So werf ich meine SorgenMit Freuden auf den Herrn,Und hilft er heute nicht, so hilft er mir doch morgen.Nun leg ich herzlich gernDie Sorgen unters KissenUnd mag nichts mehr als dies zu meinem Troste wissen: 5. Aria B Violino I/II, Viola, Continuo Auf Gott steht meine Zuversicht,Mein Glaube lässt ihn walten. Nun kann mich keine Sorge nagen, Nun kann mich auch kein Armut plagen. Auch mitten in dem größten Leide Bleibt er mein Vater, meine Freude, Er will mich wunderlich erhalten. 6. Recitativo A Continuo Ei nun!So will ich auch recht sanfte ruhn.Euch, Sorgen, sei der Scheidebrief gegeben!Nun kann ich wie im Himmel leben. 7. Choral Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, Continuo Weil du mein Gott und Vater bist,Dein Kind wirst du verlassen nicht,Du väterliches Herz!Ich bin ein armer Erdenkloß,Auf Erden weiß ich keinen Trost.________________________________________Besetzung Soli: S A T B, Coro: S A T B, Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, ContinuoEntstehungszeit 5. September 1723Text unbekannter Dichter; 1,3,7: unbekannter Dichter 1561
Liebe Gemeinde,
was das Glück ausmacht und worum die Menschen sich sorgen - das ist regelmäßig Gegenstand öffentlicher Befragungen. Wer offensichtlich besonders um die Attraktivität des Glücks weiß, ist die Deutsche Post. Und so finanziert sie Jahr für Jahr eine Erhebung namens Glücksatlas. Glaubt man dem Report des letzten Jahres, dann fühlen sich die Deutschen so gut wie seit sechs Jahren nicht mehr. Die Schleswig-Holsteiner liegen vorne. Die Mecklenburger liegen leider abgeschlagen auf dem letzten 19. Platz, die Sachsen kommen na ja, auf Platz 15. Fachleute sagen, dass die Erhebungen sich "an der unteren Grenze der Repräsentativität" befinden. Dennoch lohnt ein Blick auf das, was die größten Sorgen sind. Sie betreffen Existenzfragen: Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor dem sozialen Abstieg, Sorge um die Gesundheit und Angst davor ein Pflegefall zu werden. Manche Psychologen sind der Meinung, dass sich darin abbildet, was für unser Seelenleben heute bestimmend ist: Es ist nicht die „Sucht" nach mehr, sondern die Angst, weniger zu bekommen. Man fühle sich einer Geldwirtschaft hilflos ausgeliefert, die außer Kontrolle geraten kann. Und das Leben in der Wohlstandsgesellschaft führt uns täglich vor Augen, was wir alles verpassen und verlieren könnten - und wer darauf vielleicht alles noch Anspruch erheben könnte und den wir als möglichen Konkurrenten fürchten.
Die größten Ängste also haben wir demnach also um uns selbst. Kann man also sagen: So ist der Mensch? Kreist er immer wieder nur um sich selbst? Wie kann er herauskommen aus seiner ängstlichen Selbstbezogenheit? Es sind Fragen, die auch in der heutigen Kantate thematisiert werden.
Hier begegnen uns in den ersten drei Sätzen gleich mehrere Stimmen, die „vom Abend bis zum Morgen" um die eigenen Sorgen kreisen bis hin zur absoluten Verzweiflung: der Sehnsucht danach, zu sterben und damit alles hinter sich zu lassen: „Wie elend ist's um mich bestellt, ach, wär ich doch nur tot." Wer in seinem näheren Umfeld mal erlebt hat, wie ein Mensch diesen Gedanken in die Tat umsetzt, steht meist hilflos da und fragt sich: Was habe ich an ihm versäumt? Einem Menschen den Blick über den Teufelskreis seiner Sorgen hinaus zu weiten, ist unendlich schwer.
In dieser Kantate scheint es zum Glück noch nicht so weit zu sein. Denn durchgängig schaltet sich sozusagen die zweite Seele ein, die, ach, noch in dieser Menschen Brust wohnt. Sie fragt: „Warum betrübst Du Dich, mein Herz?". Immer wieder unterbricht dieser Choral das Grübeln und versucht den Menschen von dieser einseitigen Richtung abzubringen. Sagt ihm: Hör auf, hier ist kein Ausweg zu erwarten. Er eröffnet sich vielmehr nur in der Bewegung weg von sich selbst und in der Erinnerung an ein vielleicht längst verloren geglaubtes Gefühl: Vertrauen. „Vertrau Du Deinem Herrn Gott, der alle Ding erschaffen hat." Dabei geht es von der Erinnerung daran hin zur Aufforderung, sich selbst eines Beistands zu vergewissern, der einem helfen kann, mit seinen Sorgen anders umzugehen. „Wo ist jemand, der sich zu meiner Rettung find?" Die Frage des Sopranrezitativs zeigt schon den ersten Schritt in diese Richtung: Ein Gegenüber zu suchen, mit dem man ins Gespräch eintreten kann. Die Frage des folgenden Altrezitativs „Wer steht mir denn in meinem Kummer bei?", verstärkt das Denken in diese Richtung noch und lässt die Antwort des Chorals wiederholen: „Dein Vater und der Herre Gott, der steht Dir bei in aller Not."
Im folgenden Tenor-Rezitativ kommt es dann zur Wende im Umgang mit den Sorgen. Zum ersten Mal wird der Mensch wirklich richtig aktiv: „So werf ich meine Sorgen mit Freuden auf den Herrn." Wenn man sich die Psalmen des Alten Testaments liest, findet man das dort ganz oft: den Menschen im offenen Aufruhr gegen Gott, der seine Klage ungehemmt äußert. „Wirf dein Anliegen auf den Herrn", kann es da heißen. „Werfen" - das ist eine Bewegung von sich weg mit Druck und Kraft.
Gott mit den eigenen Aggressionen zu konfrontieren, ist ein guter alter biblischer Rat. Wie viel kraftvoller als ein neuzeitliches „Denk positiv", in dem negative Gedanken nicht mehr zugelassen werden. Der biblische Umgang mit dem Thema Sorgen, der sich in dieser Kantate abbildet, ist da barmherziger. Die negativen Gefühle sollen, dürfen, müssen raus an Gottes Ohr. Der, der Himmel und Erde geschaffen hat, wird doch in der Lage sein, mir Kraft und Phantasie zu schenken, um mit den Problemen dieser meiner Welt umgehen zu können! Wer das allem Anschein der Realität zum Trotz beharrlich glauben kann, dem werden sich aus dem Zirkel seiner Sorgen möglicherweise eher Perspektiven bieten als dem, der keinen Bezug mehr herstellt zwischen seinem Leben und dem, dem er es verdankt. Auf diese Perspektive kommt es Jesus an, wenn er sagt: Schaut auf die Lilien auf dem Feld, auf die Vögel unter dem Himmel. Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen. Sie leben im Vertrauen auf die eine Quelle des Lebens, die nicht versiegt und aus der folglich auch der Mensch schöpfen kann. Auch neue Ideen, neue Kräfte und neuen Mut. Und so wird der letzte Satz der Kantate, der für sich genommen eher resigniert klingt, zum Zeugnis der Hoffnung: „Ich bin ein armer Erdenkloß, auf Erden weiß ich keinen Trost" - nein, ich weiß ihn manchmal nicht. Aber wo ich den Blick aus meiner um mich selbst kreisenden Trostlosigkeit zu erheben wage, da kann er mir von woanders her kommen und mich einstimmen lassen in das Bekenntnis der Bassarie: „Er will mich wunderlich erhalten." Amen.
Gebet
Unser Gott, immer wieder haben wir Sorgen um Menschen, für die wir Verantwortung haben und immer wieder sorgen wir uns auch um uns selbst. Steh uns bei, wenn wir beginnen, nur noch um uns selbst zu kreisen. Bewahre uns vor Resignation und Selbstmitleid und schenke uns jeden Tag von Neuem die Kraft zu neuen Ideen und Perspektiven. Dazu stärke uns durch Dein Wort und schenke uns Deinen Geist. Mit den Worten Jesu beten wir: Vaterunser...
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org