Motettenansprache

  • 22.09.2017
  • Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann

BWV 228 „Fürchte Dich nicht, ich bin bei dir"

Liebe Gemeinde,


sie hatte eine wunderbare Sopranstimme. Sie stammte aus einer großen Musikerfamilie. Beide Großväter waren Musiker, der Vater war Hoftrompeter in Zeitz. Die Eltern fördern die vier Töchter. Die Jüngste erhält bereits in jungen Jahren eine professionelle Gesangsausbildung bei Pauline Kellner in Weißenfels. (1)
Mit 17 Jahren ist sie am Anhalt-Zerbster Hof und zwei Jahre später am Hofe von Fürst Leopold in Köthen angestellt. Sie erhält als „Kammermusikerin" das zweithöchste Gehalt nach dem Hof-Kapellmeister und bei einer Aufführung doppelt so viel wie ihr Vater. (Ihre Schwestern übrigens auch). Die Kundigen ahnen es schon, wer heute vor 316 Jahren in Zeitz geboren ist?
Es ist Anna Magdalena Bach, die zweite Frau von Johann Sebastian Bach.
Sie ist 20, als die beiden heiraten. In Köthen sind sie ein berufstätiges Ehepaar. Für uns ist das mittlerweile selbstverständlich - wenn auch bis heute Frauen nicht gleich bezahlt werden wie Männer. Vor 300 Jahren - auch vor 100 Jahren - war es sehr selten.Die meisten Bach-Biografen gehen davon aus, dass Johann Sebastian Anna Magdalena heiratete, um eine Mutter für seine Kinder und eine Wirtschafterin zu haben. Jedoch: eine unverheiratete Schwester seiner ersten Frau Maria Barbara führt bereits den Haushalt und kümmert sich um die Kinder. Anna Magdalena hingegen ist in Haushaltsführung und Kindererziehung unerfahren. Zudem ist sie nicht darauf angewiesen, zu heiraten. Daher vermutet Ute Tartz, Universität Leipzig, dass die beiden sich sehr lieben.
Ihrer beider Musikalität, Begabung und ihre Begeisterung für die Musik verbindet beide auf engste. Vermutlich bewundert Anna Magdalena den 16 Jahre älteren Komponisten und Kapellmeister.
Zwei Jahre später ziehen sie nach Leipzig, wo Johann Sebastian Bach Thomaskantor wird.
Und Anna Magdalena? Was wird aus ihr? Die Oper ist seit 1720 geschlossen. In der Kirchenmusik dürfen Frauen noch nicht auftreten. Zunächst einmal ist sie Mutter. In knapp 20 Jahren Jahren bekommt sie 13 Kinder, 6 Töchter und 7 Söhne. Wenn ich mir vorstelle, wie sie noch das eine Kind stillend, schon wieder schwanger ist, für die große Familie sorgt, so brauche ich nicht viel Phantasie, um zu ahnen, wie anstrengend ihr alltägliches Leben ist. Carl Philipp Emmanuel, der Sohn aus der ersten Ehe, vergleicht die Kantorenwohnung mit einem Taubenschlag. (2)
Denn hinzu kommen noch die vielen Schüler ihres Mannes und zahlreiche Gäste, die sie beherbergen.
Tragisch ist, dass drei ihrer Kinder nicht einmal den ersten Geburtstag erleben, vier sterben im Kindesalter. Manche sagen, dass es in jenen Zeiten wohl einfacher gewesen sei, die Kinder her zu geben und ihren Tod anzunehmen. Weil es so viele gewesen seien. Aber ist das wirklich so gewesen? Ich bin dankbar, dass in Deutschland und Westeuropa heutzutage die Kindersterblichkeit dank einer sehr guten medizinischen Versorgung gering ist. Dennoch sterben Kinder vor ihren Eltern.
Ich feiere einmal im Jahr gemeinsam mit verwaisten Eltern einen Gottesdienst, in dem wir ihrer Kinder - Großkinder und der Geschwister gedenken, die zu früh gestorben sind. Dabei sind betagte Frauen, die ein Kind auf der Flucht von Ostpreußen, Pommern oder Schlesien nach Westen verloren haben . Aber auch ganz junge Eltern. Es ist für mich der bewegendste Gottesdienste in der Adventszeit und ich bin dankbar, dass ich ihn mit einer Gruppe Eltern vorbereite, die die Selbsthilfegruppen leiten. Nahezu jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt. Es darf kein falscher Ton zu hören sein. Nichts, was verharmlost oder oberflächlich ist. In diesem Gottesdienst hat die Trauer ihren Raum. Die Erinnerung an die Kinder, die sie schmerzlich vermissen, darf und muss sein. In den Gebeten und mit dem symbolischen Anzünden von Kerzen nähren wir die die Hoffnung, dass die Kinder im Himmel, bei Gott und den Engeln seien.
Ob Anna Magdalena und Johann Sebastian Zeit zum Trauern um ihre Kinder hatten? Zwar nicht in Selbsthilfegruppen, aber sicher in der Musik und im Gottesdienst. Bach hat Tod und Trauer in seinen Werken - darf man sagen „verarbeitet"? Hier in der Thomaskirche, in dem Gedenkraum ist ein Original-Text zu finden: "innerhalb von eineinhalb Jahren waren es drei Kinder, die wir hergeben mussten" erinnerte Bach traurig „ ... meiner Frau und mir noch immer eine große Last." (Tafel 11).
Auch in der Motette, die wir hören werden, wird der tiefe Glauben an das ewige Leben und die Erlösung durch Gott sicht- und hörbar. Der Verlust ist nur zu ertragen und zu tragen, wenn wir glauben, dass die zu früh gestorbenen Kinder nicht verloren, sondern aufgehoben sind.
Die Bachin war und bleibt Musikerin. Sie musizieren gemeinsam, sie singt: Zuhause. Bei Hauskonzerten, die die Familie gestaltet. Nach außen ist nur Johann Sebastian erfolgreich und
später nur die Söhne, nicht die Töchter.
Ihr Ehemann wäre dumm gewesen, hätte er sie nicht singen und hören lassen, was er komponiert hatte. Vermutlich hört sie zu mit einem Kind auf dem Arm? Dem anderen am Rockschoss? Und eines im Bauch.
Haben sie über seine Kompositionen gesprochen? Hat sie ihn inspiriert? Ich bin davon überzeugt. Hat sie selbst manches beigetragen, vielleicht sogar selbst komponiert?
Überliefert ist, dass sie Noten schreibt und kopiert. Sie schafft ihm die Ruhe im Taubenschlag,die er für seine Arbeit braucht, sie gibt ihm emotionalen Rückhalt und die häusliche Fürsorge.
Zwei Notenbüchlein haben Johann Sebastian und Anne Magdalena 1722 und 1725 herausgegeben, mit Klavierkompositionen von Bach, anderen Komponisten und Gesangsstücke. Mit diesen Heften ist ihr Name in Erinnerung geblieben.
1750 stirbt Bach, es gibt kein Testament und wenig finanzielle Rücklagen, aber zahlreiche wertvolle Instrumente und viele viele Noten. Die Witwe muss die Dienstwohnung in der Thomassschule verlassen. Sie wohnt weiter in Leipzig und drei Kinder bleiben bei ihr, die unverheiratete 42jährige Stieftochter Catharina Dorothea und die beiden jüngsten Töchter, 8 und 13 Jahre alt. Der Rat verfügt, dass Anna Magdalena die Vormundschaft nur erhält, wenn sie nicht wieder heiratet. Ökonomisch ist das für sie schwer. Das Erbe wird unter den 9 noch lebenden Kindern und ihr aufgeteilt. Einige Aufführungsstimmen von Kantaten vermacht sie der Thomasschule. Sie lebt und überlebt bis zu ihrem Tod als „Almosenfrau", ist auf das Wohlwollen des Rates, auf Spenden und den Verkauf von Noten angewiesen.
1760 stirbt Anna Magdalena mit 58 Jahren. Sie wird in einem Armenbegräbnis ohne den Namen auf der Grabstelle beigesetzt. Das einzige Porträt, das von ihr existierte, sei verschollen (siehe 1).
Wenn man die Leistungen von JSB sieht, darf man die Leistungen seiner Ehefrau AMB , die ihm sicher Muse und Halt, fachkundige Beraterin und tatkräftige Hilfe war, nicht vergessen. Die Stadt Leipzig und die Thomasgemeinde hat daher an ihrem 300. Geburtstag die Bachin mit einer Gedenktafel gewürdigt: gleich hier nebenan am Thomaskirchhof 18, wo sie gelebt hat. Heute ist die gerundete Plakette mit wunderschönen Blumen geschmückt.
Im Jahr 2001 wurde ihr auch eine Ausstellung gewidmet.

2. Für die Motette, die wir gleich hören werden, hat Johann Sebastian Bach Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja genommen. „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir. Weiche nicht, ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch. Ich erhalte dich durch die Hand meiner Gerechtigkeit" (Jesaja 41.10)
und „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." Sowie einen Text von Paul Gerhardt: „Herr mein Hirt, Brunn aller Freuden ...."
Wahrscheinlich hat er die Motette schon in Weimar komponiert. Sie ist ein achtstimmiger filigraner Chorsatz, der bei den Worten „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen" vierstimmig wird. „Denn ich habe dich erlöset" hat ein absteigendes chromatisches Thema, „ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein" ist ein aufsteigendes diatonisches Hoffnungsmotiv. (3)
„Die absteigende Linie versinnbildlicht das vom Himmel herabsteigende Handeln Gottes, die aufsteigende die Freude derer, die diesen Glauben annehmen. Dann erhebt sich, als Höhepunkt des Stückes, über den Stimmen die Choralmelodie „Herr mein Hirt, Brunnn aller Freuden, ehe am Ende die doppelchörige Struktur des Anfanges wieder kehrt." (4)
Liebe Gemeinde, für solche Musik, die uns Hörenden und Euch den Singenden, das menschliche Leid und die göttliche Barmherzigkeit, unser Hoffen und Sehnen und unseren Wunsch nach Nähe gleichzeitig und ungleichzeitig darbringt, ist das Wort „Danke" fast zu gering. Denn wir haben teil an Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Propheten Jesaja, Johann Sebastian Bach, mit Anna Magdalena Bach und ihrer beider Erbe. Amen

(1) und (2) (SWR 2 Musikstunde, Ulla Zierau, Die Bachs, Chronik einer Musikerdynastie - 4- 21.4.2017)
(3) und (4) Jochen Arnold. Booklet zu Johann Sebastian Bach: Motetten, erschienen in chrismon-edition


Hanna Kreisel-Liebermann, Marktkirchenpastorin Hannover, hanna.kreisel-liebermann@evlka.de