Motettenansprache

  • 16.09.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach
Jesu, der du meine Seele, BWV 78
(Kantate zum 14. Sonntag nach Trinitatis)

Duett
Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten,
o Jesu, o Meister, zu helfen zu dir.
Du suchest die Kranken und Irrenden treulich.
Ach höre, wie wir
die Stimmen erheben, um Hülfe zu bitten!
Es sei uns dein gnädiges Antlitz erfreulich!

Biblischer Bezug: Lukas 17,11-19
Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Liebe Gemeinde,
„wir eilen mit schwachen doch emsigen Schritten" - es ist wie eine Mischung aus Wetteifern und gegenseitigem Ansporn in dem Duett von Sopran und Alt, das wir gleich in Johann Sebastian Bachs Kantate hören werden. Beschwingt laufen die beiden Stimmen nebeneinander her und versuchen sich in ihrer Eile zu übertreffen hin zu dem einen Ziel: „O Jesu, o Meister zu helfen, zu dir. Du suchst die Kranken und Irrenden treulich... Es sei uns dein gnädiges Antlitz erfreulich."

So zielstrebig wie diese beiden Stimmen auf ihr Ziel zusteuern, geht es in der biblischen Geschichte, die dem Text dieses Duetts zugrunde liegt, zunächst einmal nicht zu. Eher zufällig begegnet Jesus auf seiner Wanderung durch Samarien 10 Aussätzigen, die ihm von weitem zurufen: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser." Mag das auch von der historischen Tatsache bestimmt sein, dass die Aussätzigen sich fernzuhalten hatten von den Gesunden, fällt doch auf: Dieser Hilferuf ergeht quasi im Vorübergehen. Es dominiert die Distanz, es kommt zu keiner wirklichen Begegnung dieser Männer mit Jesus, zumal auch er ihnen nur von weitem antwortet: „Geht hin und zeigt euch den Priestern." Das war der normale Weg in solchen Fällen, die Routine. Sie halten sich daran, sie werden rein - und verschwinden wieder in der Anonymität, aus der sie gekommen waren.

Nur einer tut das nicht. Er realisiert seine Heilung und stellt sich offenbar anders als die anderen die Frage: Wie bin ich dazu gekommen? Das lässt ihn offenbar umkehren. Er verlässt den vorgegebenen Weg, er sucht Jesus auf und dankt ihm. Und ist damit der einzige, der zielstrebig auf den zusteuert, dem er sein neu gewonnenes Leben verdankt. In seiner Antwort macht Jesus deutlich, dass dieser Moment des Nachdenkens und des ausgesprochenen Danks ein Teil seiner Heilung ist: „Steh auf, dein Glaube hat dir geholfen". Im Gegensatz zu den anderen neun hat dieser Mensch begriffen: Er ist nicht nur rein geworden, sondern heil.

Diese Geschichte erzählt nicht nur etwas darüber, wie schnell bei uns wesentliche Dinge in Vergessenheit geraten. Dass wir sie erleben, wie im Vorübergehen und nicht realisieren, wie sie uns verändert haben. Und dass wir sie sozusagen abheften in einem dicken Ordner mit der Aufschrift: Selbstverständlichkeiten. Abgehakt, normal. Solange mir nichts weh tut ist es normal, gesund zu sein. Solange genug auf dem Tisch oder im Kühlschrank ist, ist es normal, satt zu sein. Und: Solange es genug Menschen gibt, die die Grundwerte einer Demokratie hochhalten, scheint es für viele normal zu sein, sich nicht selbst einzubringen, sondern alles von den anderen zu erwarten. Wie diese vermeintliche Normalität sich auswächst zu einer immer weiter um sich greifenden Anspruchshaltung, lässt sich an allen Ecken und Enden beobachten. Denn aus der Langeweile des Normalen wächst der Hunger nach mehr, nach dem Kick, nach dem Besonderen, das aus dem schnöden Alltagseinerlei aussteigt und ja nicht selten zu den wunderlichsten Verhaltensweisen erwachsener Menschen führt - wie z.B. dem gleich in der Innenstadt startenden „Zombiewalk". Aber die Jagd nach dem nächsten Event, noch schriller, noch lauter, noch bunter, wird den Hunger nicht stillen können, der einen zu diesem Verhalten treibt. Was ist dieser Hunger anderes als die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach gemeinsamem Erleben und Gestalten von Freude und Fülle des Lebens? Schwierig wird es, wenn es diesem Hunger an substantieller Nahrung mangelt und er immer weiter das verschlingt, was nicht wirklich satt macht. Natürlich haben wir diesen Hunger alle und er hat durchaus auch mit dem zu tun, weshalb wir überhaupt hierherkommen, in die Motetten. Es ist diese Sehnsucht, das Verlangen, in Bachs und anderer Komponisten Musik zu spüren: Hier ist ein Moment der Fülle, ein Moment, wo Himmel und Erde sich verbinden und man weiß, wofür sich alles lohnt, alle Anstrengung, alle Müh und Not. Etwas, was sich gar nicht richtig beschreiben lässt aber wo ich merke: Hier bin ich an der Quelle, aus der ich schöpfen kann, an einer Quelle, die nie versiegen wird. Hier stille ich meinen wirklichen Hunger, meinen wirklichen Durst.

Ich denke, hier sind wir am entscheidenden Punkt in der Geschichte von den 10 aussätzigen Samaritern. Bei der bewussten Rückkehr zur Quelle des Lebens, aus der wir schöpfen. Dass der Reingewordene sich bewusst macht, geheilt zu sein. Dass er erst den aufsucht, dem er sich verdankt, bevor er wie die anderen neun, natürlich zurückkehrt in seinen Alltag. Jede offene Kirche, jede Andacht, jeder Gottesdienst ist so ein Moment der Rückkehr zur Quelle, um das zu tun, was der eine der 10 Samariter tut: Gott die Ehre zu geben. Soli Deo Gloria, wie Bach es unter all seine Werke geschrieben hat, auch unter dieses.

Noch einmal: Rein geworden sind die neun anderen auch. Aber nur diesem einen sagt Jesus, dass ihm auch geholfen ist. Dass sein Glaube, sein Lob wie sein Dank für das Empfangene das ist, was ihm hilft, was ihn aufrichtet. Und das kann für uns doch nur heißen: Wo wir meinen, auf die Rückkehr zu diesen Quellen verzichten zu können und nur aus dem zu schöpfen, was uns der Alltag an mehr oder weniger sinnvollen Beschäftigungen und Ablenkungen bietet, werden wir auf die Dauer verkümmern, werden wir ziellos werden in dem, was wir tun oder die Ziele, die wir ins Auge gefasst haben, verzweifelt zu erreichen versuchen auch dann, wenn sie sich längst als falsch oder unzureichend erwiesen haben.

Davon wird uns nur eines heilen: die beständige Umkehr zu den Quellen unseres Lebens, zu Wort und Weisung Gottes und zu dem, der ihm ein Gesicht gegeben hat, das in dem Duett von Sopran und Alt besungene „gnädige Antlitz" Jesu, der die „Kranken und Irrenden treulich" sucht.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org