Motettenansprache

  • 08.09.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Psalm 119 (Auszüge)
Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. 19 Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir. 20 Meine Seele verzehrt sich vor Verlangen nach deinen Ordnungen allezeit. ... 24 Ich habe Freude an deinen Zeugnissen; sie sind meine Ratgeber. ... 26 Ich erzähle dir meine Wege, und du erhörst mich; lehre mich deine Gebote. 27 Lass mich verstehen den Weg deiner Befehle, so will ich nachsinnen über deine Wunder. ... 29 Halte fern von mir den Weg der Lüge und gib mir in Gnaden dein Gesetz. 30 Ich habe erwählt den Weg der Wahrheit, deine Urteile habe ich vor mich gestellt. 31 Ich halte an deinen Zeugnissen fest; HERR, lass mich nicht zuschanden werden! 32 Ich laufe den Weg deiner Gebote; denn du tröstest mein Herz.

Liebe Gemeinde,
wie kriegen wir das wieder eingefangen, wie kommen wir zu einem selbstverständlichen ordentlichen und anständigen Ton miteinander zurück? Einmal mehr gingen mir in dieser Woche diese Fragen durch den Kopf. Da wird Angela Merkel in Torgau beschimpft, nieder geschrieen, übel beleidigt. Ja, es ist Wahlkampf, es geht hoch her auch emotional - aber was soll das? Was passiert da eigentlich, was hat das noch zu tun mit irgendeiner Form von zivilisierter Auseinandersetzung. Es gibt Grundregeln menschlichen Anstands, die auch der einhalten sollte, der aus möglicherweise guten Gründen gehört werden will. Ich wüsste nicht, wie wir sonst miteinander unsere Gesellschaft gestalten könnten.
Scharfe Töne aller Orten. Was geht ab in jemandem, der einen in einer e-mail als Heuchler beschimpft, weil wir seit letzter Woche Spenden sammeln für Obdachlose, die in unserer Partnerstadt Houston durch die Überschwemmungen alles verloren haben - Wo es doch hier bei uns genug Leute gäbe, die wahrhaft schlimmer dran sein. Man mag erwidern: In Indien und der Karibik sicher auch. Abgesehen, dass es hochproblematisch ist, Opfer zu klassifizieren, in dem, was sie erlitten haben - aber auch darüber kann man in Ruhe reden, statt sein Gegenüber, mit Verlaub, anzupöbeln.

Gerade in letzter Zeit denke ich wieder und wieder: Leute, lasst uns doch mal ein bisschen runterkommen. Mal zur Ruhe finden, mal zu uns kommen, ins Gleichgewicht. Ich denke, jeder kennt die eigenen Stellen, wo er reizbar ist, ungeduldig und wo der andere nur den roten Punkt drücken muss und man agiert so, wie man es selbst eigentlich nicht möchte. Und jeder muss seinen Weg finden, damit umzugehen. Für mich ist der Psalm der kommenden Woche und auch das Lied, das wir gleich singen, da zeitlos gültig. Es geht in beidem auch darum: Wo finde ich meinen inneren Halt, meine Ausgeglichenheit - wie kann ich mit mir selbst umgehen und mit dem anderen? Und manchmal auch: Wie kann ich mich selbst ertragen - und wie den anderen? Wenn es im 119. Psalm heißt: „Wende von mir Schmach und Verachtung", dann verstehe ich das so, dass es nicht nur um das geht, was mir davon widerfährt, sondern dass Gott mich davor bewahre, das anderen anzutun. Das gleiche gilt für die Bitte: „Halte fern von mir den Weg der Lüge." Für den Psalmbeter eröffnet sich dabei ein Weg, den er gehen möchte und für den er Gott um Beistand bittet. Er sagt: 31 „Ich halte an deinen Zeugnissen fest; HERR, lass mich nicht zuschanden werden! 32 Ich laufe den Weg deiner Gebote; denn du tröstest mein Herz." Ja, ich glaube, das ist das, was uns bisweilen fehlt und manchen so sehr, dass sie offenbar nur noch schreien können: Dass sie Trost für ihr Herz finden. Das Herz ist nach biblischem Verständnis die Mitte des Menschen, unsere Person, das, was uns ausmacht. Aber wie kommen wir zu mehr Herzenstrost, zu mehr Ruhe, die unserer Mitte gut tut? Und dann auch dazu, mehr hinzuhören und die innere Bereitschaft zum Miteinanderreden in uns wieder aufrichten zu lassen? Unsere Motetten und Orgelvespern, sie sind am Ende der Woche eine Möglichkeit, sich etwas von diesem Trost aus der Musik zu holen, aus dem Wort der Bibel, mit dem Gott uns aufbaut und auch dem reichhaltigen Schatz unserer Choräle. Auch das Lied, das wir gleich singen wollen, hat damit zu tun, wie wir mit den Anfechtungen unseres Alltags, mit unserer Unruhe und auch unseren Unausgeglichenheiten klar kommen können. Es stammt von Johann Agricola, der zu Martin Luthers engsten Freunden und Mitarbeitern zählte. Agricola erlebte während seiner Studienzeit die Veröffentlichung der 95 Thesen und die Leipziger Disputation 1519 als Luthers Sekretär. In der ersten Strophe beschreibt er die innere Unruhe und Zerrissenheit, in der wir uns manchmal befinden:

Ich lieg im Streit und widerstreb,hilf, o Herr Christ, dem Schwachen; an deiner Gnad allein ich kleb, du kannst mich stärker machen. Kommt nun Anfechtung her, so wehr, dass sie mich nicht umstoße; du kannst machen, dass mir's nicht bringt Gefähr. Ich weiß, du wirst's nicht lassen.

Für Agricola war ganz klar: Es gibt Dinge, die schaffe ich nicht allein aus mir selbst heraus. Ich brauche es, dass mich jemand stärkt, der mir beisteht, nicht umgestoßen werden von allem, was mich so plagt an Ängsten und Sorgen. Es braucht jemanden, der mir dabei beisteht, dass ich ich bleiben kann und ich mich nicht hinreißen lasse zu Dingen, mit denen ich, um es mit den Worten der ersten Strophe zu sagen, statt „meim Nächsten nütz zu sein" ihn beleidige, verletze und weiter. Agricola weist die, die sein Lied singen, dabei auf das hin, was Jesus selbst uns als den Grund aller Gesetze und Gebote der Bibel genannt hat: auf die Gottes und die Nächstenliebe. Hier ist alles gesagt: Liebe Gott und deinen Nächsten wie Dich selbst. Haben wir heute vielleicht einige Schwierigkeiten mit diesem Satz, weil wir uns selbst zu wenig lieben können? Ich meine keine Selbstverliebtheit. Sondern ein Ja zu uns selbst in dem, wie wir sind, gerade mit unseren Schwächen, mit unsern Fehlern. Liebe, die etwas aushält und erträgt, auch an uns selbst. Es ist unmöglich, jemand anderen zu lieben, wenn man es bei sich selbst nicht schafft. Um die Bitte, zu dieser Mitte finden zu können, die uns Klarheit schafft und Orientierung, geht es in diesem Psalm, geht es in diesem Lied. Vielleicht hilft uns beides, am Ende dieser Woche runterzukommen von dem, was uns aufgeregt hat oder geärgert - und dabei, Gott zu bitten, uns das zu geben, was wir brauchen an Herzenstrost. Amen.

Gebet (Dietrich Bonhoeffer)
Herr mein Gott, ich danke dir, dass du diesen Tag zu Ende gebracht hast. Ich danke dir, dass du Leib und Seele zur Ruhe kommen lässt. Deine Hand war über mir und hat mich behütet und bewahrt. Vergib allen Kleinglauben und alles Unrecht dieses Tages und hilf, dass ich denen vergebe, die mir Unrecht getan haben. Lass mich in Frieden unter deinem Schutze schlafen und bewahre mich vor den Anfechtungen der Finsternis. Ich befehle dir die Meinen, ich befehle dir dieses Haus, ich befehle dir meinen Leib und meine Seele. Gott, dein heiliger Name sei gelobt.
Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org