Motettenansprache
- 18.08.2017
- Pfarrerin Taddiken
„Ich habe keinen gesehen, der nicht geweint hat" so hat es ein Augenzeuge des Anschlags in Barcelona gesagt. Und wieder einmal waren das schreckliche Bilder mit toten Menschen am Straßenrand, die gerade eben noch vergnügt ihren freien Abend oder die Ferien genießen. Wieder ist jemand in eine Menge gefahren, um zu töten, nahezu routinemäßig nimmt man diesen Wahnsinn im Moment fast jeden Tag zur Kenntnis (gerade eben kamen auch schlimme Nachrichten aus Turku). Was einem aber immer wieder den Atem nimmt und die Tränen in die Augen treibt ist der Tod eines eben noch lebenden unschuldigen Menschen. Der Schrecken des plötzlichen Todes obwohl wir darum wissen, jederzeit kann unser Leben zuende sein, das ist das Thema der eben gehörten Motette von Felix Mendelssohn, in der er Luthers Vertonung der mittelalterlichen Antiphon „Media vita in morte sumus" aufnimmt.
„Mitten wir im Leben sind, mit dem Tod umfangen. Wer ist da, der Hülfe tu, dass wir Gnad erlangen. Das bist du, Herr alleine." Auch da war es das Entsetzen über den allgegenwärtigen plötzlichen Tod, Luther schrieb diesen Text bzw. das Lied im Jahr 1524, als in den Bauernkriegen die Menschen zu Tausenden abgeschlachtet wurden. Die ganze Bitterkeit kommt hier zur Sprache. „Lass uns nicht versinken in der bittren Todesnot". Dieser Bitte am Ende der ersten Strophe seines Hymnus stellt Luther am Ende der dritten Strophe die Bitte gegenüber, im Glauben nicht irre zu werden angesichts des um einen herum tobenden Chaos: „Lass uns nicht entfallen von des rechten Glaubens Trost".
Die Anfechtung, nicht glauben zu können, an sich, an einer verrückten und scheinbar aus den Fugen geratenen Welt zu verzweifeln, kannte Luther selbst ja gut. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Einer seiner Wege, damit umzugehen, war der tägliche Weg ins Gebet. Dass er selbst immer wieder diese Texte betete, wenn ihn die Tränen überkamen, die Bitterkeit des Ungeahnten, als seine kleine Tochter starb soll er tagelang nicht ansprechbar gewesen sein, er, der um klare oder derbe oder auch gehässige Worte nicht verlegen war. Für ihn waren Worte, Gebete wie dieses ein Weg, um „runterzukommen", wie man heute sagt. Sich nicht allein vom Affekt und der momentanen Betroffenheit leiten zu lassen. Sich selbst einordnen in das Geschehen, Sinne, Herz und auch Verstand wieder neu ausrichten. Still werden und anders und anderes wahrnehmen können als vorher.
Von dieser stärkenden, wohltuenden Kraft des Gebets war Luther ein Leben lang überzeugt. Dass es sinnvoll ist, es allen Taten vorausgehen zu lassen: die Klage und die Wut Gott gegenüber auszudrücken, genau wie die Bitte um Kraft und Gelassenheit und den Dank für alles Empfangene. Wie gesagt: Luther wusste genau, dass einem gerade die eigenen Worte fehlen können. Gerade deshalb hat er auf die Sprache der Tradition vertraut. Dass da Worte sind, die man sich leihen kann.
Auch Felix Mendelssohn hat es so gesehen. An seine Schwester Fanny schriebe er am 22. November 1830 über dieses Stück: „Der Choral „Mitten wir im Leben sind" ist „wohl eins der besten Kirchenstücke, die ich gemacht habe, und brummt bös, oder er pfeift dunkelblau". Mendelssohn versucht hier, den alten Choral mit seinen archaischen Wendungen zu einer Synthese zwischen dem romantischen Ausdrucksbedürfnis seiner Zeit und seinem Ideal einer Kirchenmusik zu bringen, die ganz rein, untheatralisch sein müsste und dabei dennoch das Innere erheben sollte. So bleibt er bei dem, was auch Luther schon wichtig war und was man die therapeutisch-seelsorgerliche Dimension der Musik nennen kann. „Die Musik ist die beste Gottesgabe. Sie ist das größte, ja wahrhaft ein göttliches Geschenk und deshalb dem Satan völlig zuwider. Durch sie werden viele und große Anfechtungen verjagt. Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag. Sie ist eine Lehrmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmütiger, vernünftiger macht...." Wenn es auch nur halbwegs so stimmt, dann ist es gut für heute, wo wir einiges aus der letzten Woche zu verarbeiten haben, solche Musik zu hören und jetzt selbst zu singen, auch und gerade in dem, was uns anfechten mag.
Gebet
Unser Gott, am Ende dieser Woche kommen wir zu Dir mit dem, was uns dankbar macht aber auch mit dem was uns entsetzt und verunsichert. Wir bitten Dich für die Toten und Verletzten von Barcelona, Charlottsville und Turku und für all die, die anderswo Opfer von Terror und Gewalt geworden sind, für alle, die verstört und traurig zurückbleiben. Halte sie fest bei Dir, gib Kraft und Besonnenheit. Sie und uns vertrauen wir Dir an mit den Worten Jesu:
Vaterunser...
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org