Motettenansprache

  • 07.10.2023
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 6. und 7. November 2023, Orgelvesper

Lesung aus Jesaja 58,7-12

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Liebe Motettengemeinde,

er ist so schnell vorbei: Der Erntedanktag, den wir am Sonntag hier gefeiert haben. Ich möchte daher noch ein bisschen bei ihm verweilen, weil alle seine Fragen im Moment hoch aktuell sind. Was lässt unser Leben wachsen – und auch unser Miteinander? Wovon leben wir wirklich? Wenn wir unsere Kirchen mit den Erntegaben schmücken, dann führen sie uns ganz elementar vor Augen: Wir können zwar einiges dafür tun, dass etwas wachsen kann. Aber dass es tatsächlich geschieht, steht nicht in unserer Hand, wie es das wunderbare Erntedanklied von Matthias Claudius aktuell wie eh und je ausspricht: „Es geht durch unsere Hände, kommt aber her von Gott.“

Damit aber ist sofort die Frage verbunden: Was ist eigentlich die grundlegende Haltung in meinem Leben? Bin ich eher notorisch dankbar oder notorisch unzufrieden? Und was hilft mir, mit der Angst um mein Leben umzugehen? Zum Erntedankfest gehört der Text aus dem Jesajabuch, den wir eben gehört haben. Er ist eine Verheißung, die über alle Rat- und Hilflosigkeit über das Gegenwärtige hinausgeht. Er ist voll Kraft, die man als konkrete Lebens-und Glaubenshilfe für sich selbst verstehen kann: 

„Brich dem Hungrigen dein Brot.“, beginnt Jesaja. Nun geht es natürlich ganz schnell, dass wir angesichts solcher Mahnung sofort beim Hunger der ganzen Welt sind. Bei Zahlen und Fakten, die beängstigend und zu groß für uns sind. Ja, es stimmt: Wir werden nicht allen helfen können. Und nur im Verbund mit vielen anderen willigen Ländern wird es gelingen können, Fluchtursachen politisch angehen zu können und sich nicht nur mit der Frage zu beschäftigen: Wie verhindern wir, dass wir von den weltweiten Fluchtbewegungen möglichst nicht getroffen bzw. in unserem Wohlstand gestört werden?

Genau davon will Jesaja uns wegführen, von diesem Gefühl der Hilflosigkeit, das sich zum Schutz unserer selbst sehr schnell mit der Stimme in uns meldet: Du bist nicht zuständig – und Du allein kannst eh nichts machen. Hier bei Jesaja aber heißt es: Brich dem Hungrigen dein Brot. Einem. Es geht nicht um die ganze Welt, sondern um meine Haltung. Jesaja bleibt im Bereich des Zumutbaren, vor dem niemand sich verstecken kann. Und er sagt: Brich es ihm, dem Hungrigen und nicht mit ihm. Sind das grammatikalische Spitzfindigkeiten? Nein! Ein „mit“ steht dort nicht, um dieser Aufforderung von vornherein jeglichen Hochmut zu nehmen. Das Brotbrechen soll nicht von oben herab geschehen als Abgeben von Resten, die mir geblieben sind. Wie gefährlich das sein kann, das lässt sich an den Lebensmittelflüssen von Nord nach Süd und den dadurch erschütterten Märkten in Afrika und anderswo gut studieren – und nicht zuletzt sind ja auch das Fluchtgründe für Menschen dort. Wer anderen sein Brot bricht und nicht nur mit ihm, macht ernst mit der Erkenntnis: Der andere hat die gleichen Bedürfnisse wie ich, denselben Hunger und Durst, er leidet denselben Schmerz, er hat die gleiche Angst und lebt zuweilen in derselben Dunkelheit.

Das zu erkennen, ist eine Form von Hingabe, die uns nicht überfordert. Sie fordert uns nicht unendlich, sondern wesentlich. Es gehört zur Erkenntnis des anderen im Lichte des Evangeliums, den wonach auch immer Hungrigen unser Herz finden zu lassen. Das Herz galt in biblischer Zeit als Zentrum unserer Person, Hier denken und wollen, lieben und hassen wir. Und so heißt es folglich bei Jesaja: Brich ihm dein Brot. Gib, was Du hast und was Du kannst. Du hast Brot, Du hast Geist, Grips, Verstand, Ideen, Lebenserfahrung. Wir sollten uns mit diesen Fähigkeiten selbst ernster nehmen, Wie sehr brauchen wir dieses Zutrauen zu uns in einer so komplizierten Welt. Wie sehr brauchen wir es, um nicht zu resignieren und auf der Suche nach Wegen zu Gerechtigkeit und Auskommen für alle Menschen hartnäckig zu bleiben.

Jesaja verknüpft unsere Bereitschaft dazu mit einer Verheißung: Tue das „und deine Heilung wird schnell voranschreiten“. Darum geht es ihm: um die Heilung und Wiederherstellung dieses gesunden Bewusstseins seiner selbst, das fähig ist, das Selbst des Gegenübers als gleichberechtigt und als Adressaten des eigenen Handelns zu verstehen - und sich nicht ständig krampfhaft nur um sich selbst zu sorgen.

Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer beschreibt das Lebensgefühl unserer Gesellschaft so, dass es heute nicht mehr die Sucht nach mehr ist, die unser Seelenleben bestimmt, sondern die Angst, weniger zu bekommen. Und das Leben in der Wohlstandsgesellschaft führt einem täglich vor Augen, was man alles verpassen kann und wer darauf vielleicht alles noch Anspruch erheben könnte, den wir als möglichen Konkurrenten fürchten müssen. Kann ich um seinetwillen auf etwas verzichten, ohne selbst dadurch zu kurz zu kommen? Kann ich das tun, ohne das Risiko einzugehen, mich total aufgeben zu müssen? Wo sind da die Grenzen? Der französische Schriftsteller Andre Gide hat mal gesagt: „Nur was du hingibst, wird sich entwickeln, was du dir zu sichern versuchst, verkümmert.“  Ich finde, das ist ein Satz, der einen gut und gern bis zum Erntedank des nächsten Jahres tragen kann. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org