Motettenansprache

  • 20.05.2017
  • Pfarrerin Taddiken

 Martin Palmeri: Misa a Buenos Aires (Tangomesse)

Liebe Motettengemeinde,
in der Misa a Buenos Aires des argentinischen Komponisten Martin Palmeri erschließt sich die alte Tradition der lateinischen Messe noch einmal ganz neu. Wir freuen uns, dieses Werk heute zu hören. Es entspricht der seit über 1500 Jahren gebräuchlichen Form des christlichen Gottesdienstes, deren Grundstruktur von Menschen verschiedenster Zeiten und Kulturen als stimmig, bewegend und tröstend empfunden wird. Weltweit, ökumenisch, verbindet sie Menschen in Ost und West, Nord und Süd, Evangelische und Katholische, Bekannte und Fremde. Ihre Dynamik, die sie insbesondere in ihrer gesungenen Form entwickelt, erreicht oft auch diejenigen, die sich damit nicht besonders auskennen. Denn hier wird alles aufgenommen, und gerade in dem für den Tango typischen spannungsvollen Nebeneinander von Melancholie und Lebensfreude wird das deutlich, was das Menschsein in seinen Höhen wie Tiefen von jeher bestimmt: Freude und Gotteslob, Traurigkeit und Belastung, Zuversicht und Hoffnung, Bitte und Flehen, Schuld und Vergebung. Deshalb ist sie eine moderne und zeitgemäße Form des Gottesdienstes, an deren innerer Stimmigkeit sich jede neue Variante erst einmal zu messen hat.

Alles beginnt mit dem Ruf „Kyrie eleison", Herr, erbarme dich. Dieser Anfang bietet uns die Möglichkeit, uns im geschützten Raum von dem zu entlasten, was sich bei uns angesammelt hat an Dingen, die uns das Herz und manchmal auch den Verstand verengen. Hier in der Kirche - wo geschieht das sonst? - können wir das ohne Gesichtsverlust tun und vor Gott bringen, was wir voreinander und vor uns selbst nur ungern eingestehen: unser Versagen und unser Scheitern.

Aber das geschieht nicht, um sich kleinzumachen und in dieser Position zu verharren, sondern um sich aufrichten zu lassen durch den, der im folgenden „Gloria" besungen wird als der, der allein über den Dingen steht. Vor dem weihnachtlichen Dreiklang der Engel von Bethlehem verliert die alte Leier vom Durchsetzen des Stärkeren ihre bedrängende Kraft: Das „Gloria in excelsis Deo", „Ehre sei Gott in der Höhe" weist jeden überzogenen menschlichen Machtanspruch in seine Schranken. „Friede auf Erde" - das ist die Absage an alle Versuche, seine Ziele durch Gewalt gegen andere Menschen zu erreichen. Und im „den Menschen ein Wohlgefallen" erklingt der himmlische Einspruch gegen alles Handeln, das nicht mehr das Wohl aller in den Blick nimmt, sondern nur auf das eigene fixiert ist - und es durchsetzt ohne Rücksicht auf die sich für alle auswirkenden Verluste.

Was wir im Alltag oft aus dem Blick verlieren und je mehr das geschieht, doch umso stärker herbeisehnen, wird hier klar benannt: Friede und Gerechtigkeit unter den Menschen sind und bleiben Ziel und Aufgabe unseres Lebens. Und auch wir sind gefragt, Position zu beziehen. Daher begegnet an dieser Stelle zum ersten Mal das Wort „Ich" im Ablauf der Messe: Credo „Ich glaube", „ich bekenne". In diesem Teil wird deutlich: Was immer auch geschieht: Ich bin und bleibe, wie alle anderen Menschen auch, ein Teil der Schöpfung Gottes. Und als solcher habe ich den auf meiner Seite, der sein Leben für Menschen eingesetzt hat, denen man die Würde abgesprochen und nicht mehr als Teil der Gesellschaft akzeptiert hat: Jesus Christus. Ihm ging es immer auch um den einzelnen als Teil des großen Ziels Friede und Gerechtigkeit. Seine Kraft der Liebe war so groß, dass sie am Ende nicht nur den Hass und das Versagen zu überwinden mochte, die Menschen immer wieder ans Kreuz bringen, sondern auch den Tod selbst. Und damit hat er all dem, was mich jetzt in die Knie zwingen will, seine letzte Macht genommen. Nicht mehr das, was mich verzweifeln lässt und mich klein macht, hat das letzte Wort, sondern die Perspektive des neuen Lebens - seines neuen Lebens, das auch mir zuteil werden wird. Diese Perspektive richtet mich jetzt schon auf. Sie hilft mir, mein Leben trotz aller Schwäche aufrecht, mit Lust und weitem Herzen zu gestalten.

Im darauf folgenden Lobgesang auf die Heiligkeit Gottes, dem Sanctus, kann ich mir vergegenwärtigen: Gott schenkt meinem Leben Anteil an seiner Heiligkeit - so wie auch dem Leben um mich herum. Niemand hat das Recht, es im Namen einer Ideologie zu vereinnahmen oder gar zu brechen. Wenn diese Heiligkeit des Lebens uneingeschränkt anerkannt würde, wären wir am Ziel allen Lebens angelangt, um das es am Ende der Messe geht: den allumfassenden Frieden auf Erden. Dona nobis Pacem: Gib uns Frieden. Wer darum bitten kann, kann nicht anders, als ihm nachzugehen, allen Niederlagen und allem Frust zum Trotz. Und der kann auch nicht anders als daran festzuhalten: am Ende wird er sich allen menschlichen Zerstörungsversuchen gegenüber als überlegen erweisen. So können wir am Ende der Messe gestärkt, aufgerichtet und ermutigt wieder in unser Leben aufbrechen. Immer wieder neu.

Das ist das besonders schöne an dieser uralten Form - sie eröffnet uns immer wieder die unmittelbare Zukunft unseres Lebens. Loslassen, abgeben, aussprechen, was uns belastet, neues in uns aufnehmen durch die Begegnung mit dem Wort, das uns hält und trägt und dann wieder gehen, Gott, uns selbst und den anderen zugewandt. Zu den Quellen des Lebens gehen, die so nahe liegen, daraus schöpfen und immer wieder zurückkehren können - das bietet uns die Messe an, gesprochen oder gesungen, deutsch oder lateinisch, lang oder kurz. Sie dient Gott, aber sie dient auch uns. Amen.

Gebet
Unser Gott, wir danken Dir, dass wir zu Dir kommen können wie wir sind:
Wir bitten Dich, hilf du uns zu tragen, was uns belastet, und richte uns auf, wo uns der Alltag niederdrückt. Lass uns Deiner Begleitung an allen Tagen unseres Lebens gewiss sein, an guten wie an schweren Tagen. Weite uns Herz und Sinne, Gedanken und Verstand. Schenke uns Freude und Lust an deinem Wort, das uns immer wieder von Neuem Kraft schenkt, unser Leben in dieser Welt zu leben mit Dir, mit uns selbst und den anderen. So bitten wir Dich mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org