Motettenansprache

  • 19.05.2017
  • Pfarrerin Taddiken

„Wir feiern nicht Luther" - so stand es gestern im Sonntag, der hiesigen sächsischen Kirchenzeitung. „Wir feiern nicht Luther" - gesagt hat das Richard Führer, der derzeitige 1. Präfekt des Thomanerchors in einem Interview im Vorfeld des Kirchentags in der kommenden Woche. Er war gefragt worden, ob er nicht enttäuscht sei, dass der Thomanerchor am kommenden Sonntag nicht in Wittenberg singt. Nein, ganz und gar nicht, weil wir schließlich das feiern, was Luther und auch andere auf den Weg gebracht und angestoßen haben - und das kann man überall.

Wie wahr - und deshalb werden wir am Sonntag, bevor der zentrale Gottesdienst zum Reformationsgedenken stattfindet, auch hier in der Thomaskirche feiern, mit dem Thomanerchor und mit den Chorälen unserer lutherischen Tradition. Einige Orgelwerke, die wir heute Abend hören, nehmen diese Choräle auf und legen sie aus. Und das ist vielleicht das, wo man anfangen kann, wenn man fragt: Reformationsjubiläum - was feiern wir denn da eigentlich? - dass man sich mit den Chorälen beschäftigt. Luther hat die singende und mit ihrem Gesang bekennende Gemeinde auf eine Stufe gestellt mit dem Priester. Er hat sie herausgerufen aus der passiven Haltung des Zuhörens und hat ihr Sprache geschenkt und Stimme. Das „neue Lied singen" wozu der Psalmbeter in Psalm 98 auffordert, das sollte sie - und das war so weitgehend neu. Aber Luther und andere haben damit nicht nur eine Neuerung in den Gottesdienst eingefügt, sondern das ganze damalige gesellschaftliche Gefüge auf den Kopf gestellt. Das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen", das besagt, dass jeder in seinem Stand, in seinem Beruf und auf seine Art fähig und sogar berufen ist, das Evangelium zu leben und weiterzusagen - es sollte sich auch im Gottesdienst abbilden. In unserer Gemeinde gibt es daher keinen einzigen Gottesdienst, keine Andacht und eben auch keine Orgelvesper ohne den Gesang der Gemeinde.

Wenn die Gemeinde das Wort ergreift, wird über das hinaus aber noch mehr deutlich: Nämlich das Bekenntnis und die Bereitschaft dazu, für das Ganze einzutreten. Verantwortung zu übernehmen in dieser Welt, in die wir gestellt sind. Das offene Bekenntnis im Gottesdienst führt hin zum offenen Bekenntnis außerhalb des Kirchenraums - oder es ist keins. Vielleicht ist gerade deshalb ein Lied wie „Ein feste Burg" deshalb von seiner Melodie her so kämpferisch, weil es vor allem gilt, sich einander Mut zuzusingen für all das, was uns so als „altböser Feind" im Leben begegnet - und ihm das entgegenzuhalten, wozu uns das Evangelium auffordert: zu Wertschätzung und Haltung gegenüber jedem Menschen. Sich selbst zum Nächsten machen lassen: So wie Jesus beispielsweise in der Geschichte vom barmherzigen Samariter jeden einzelnen nach seiner Verantwortung fragt, ist es auch bei Luther. Der einzelne, die einzelne kommt in den Fokus - jeder Mensch ist unmittelbar zu Gott, es bedarf keiner Vermittlung durch irgendwen oder irgendetwas - außer der mitsingenden Gemeinde, die aus anderen einzelnen verantwortlichen Christenmenschen besteht. Denn dass der Einzelne für sich steht, bedeutet gerade keine Vereinzelung oder Loslösung von der Gemeinschaft. Es gilt bei Luther immer beides und immer beides gleichzeitig: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan - ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan."

Diese Sicht auf den Einzelnen ist dabei schon ein Schritt in die Richtung dessen, was später in der Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" heißt. Davon und von dem, was uns heute Gleichberechtigung oder Demokratie bedeuten, war Luther noch ein ganzes Stück entfernt, nicht nur zeitlich. Aber, wie sagte Richard so schön: Wir feiern nicht Luther... - auch wenn wir jetzt gleich das Lied singen, zumindest einige Strophen, in dem Luther sein Erlebnis schildert, das ihn vom Martin Luder, als der er zur Welt gekommen war, zu Martin Luther gemacht hat, was von „eleutheros" kommt, griechisch „frei, befreit": Was mich im und zum Glauben frei macht, kommt niemals aus mir selbst, sondern Gott selbst schenkt es mir. Ich bin frei zu guten Taten und nicht durch gute Taten. Unter anderem das feiern wir, diese Erkenntnis Luthers. Er selbst blieb trotzdem zeit seines Lebens auch ein Zweifler, hatte durchaus depressive Züge. Was ihm selbst dabei half, hat er auch anderen immer wieder geraten: sich der Musik und dem Gesang zu öffnen: „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik." In der Tat - und noch etwas können wir hier in den letzten Tagen und Wochen immer wieder auf dem Thomaskirchhof beobachten: Gruppen aus aller Welt kommen und singen hier am Bachdenkmal Luthers Lieder. Gestern ein Frauenchor aus Südkorea, in wunderbarer traditioneller Chorkleidung „Ein feste Burg" auf Koreanisch. Das rührt an. Der Applaus der Umstehenden war groß. So etwas können wir feiern.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org