Motettenansprache

  • 18.11.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Ansprache am 18. November 2023 zur Motette mit Kantate BWV 90 „Es reißet euch ein schrecklich Ende“ St. Thomas zu Leipzig

 

Liebe Motettengemeinde,

Bilder vom Jüngsten Gericht führen die in den Vorstellungen der Menschen existierenden Ängste deutlich vor Augen. Ob Hieronymus Bosch mit seinem Weltgerichtstryptichon oder Micheangelo an der Ostseite der Sixtina – keines dieser Bilder wird den Betrachter unberührt lassen. Sie haben eine gewaltige Macht hin zur Angst oder hin zum Trost. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Die menschliche Gier nach Bösem, Schrecklichen, das ich betrachten kann, ist groß und will befriedigt werden. Im digitalen Zeitalter multimedialer Bilder und Informationen erreichen uns in Sekundenschnelle Bilder vom entlegensten Winkel des Planeten. Meistens sind es Katastrophenbilder, weil sie sich besser verkaufen lassen. Erliegt schon Jesus diesem Mechanismus vor knapp 2000 Jahren?

Malt er Bilder vom Jüngsten Gericht in die Köpfe der Menschen, um dann eindringlicher für Umkehr werben zu können?

Fast hat es den Anschein, wenn ich den der Kantate zugrundeliegenden Text aus dem Matthäusevangelium betrachte. Die letzten Kapitel dieses Evangeliums haben Endzeit und Gericht ausführlich zum Thema. Die Sonntage am Ende des Kirchenjahres sind davon geprägt.

Jesus spricht hier von Bedrängnis, die um der Gläubigen willen schon verkürzt ist, um sie überhaupt ertragen zu können.

Trotzdem bleibt sie schrecklich genug.

Wo so geredet wird, entspringt zwangsläufig die Frage: Wann wird es soweit sein?

Woran erkenne ich, dass alles zu Ende geht und alles neu wird?

Ihr werdet es erkennen

an Lüge und Betrug,

an falschen Propheten und

an falschen Christussen, sagt uns der Text von Matthäus.

So verwundert es auch nicht, dass Terminierungen für das Jüngste Gericht und den Weltuntergang sich durch die Jahrhunderte menschlicher Zivilisationsgeschichte wie ein roter Faden ziehen. Mit jedem Verstreichen eines solches Termins schwindet auch der Glaube daran.

Ich glaube, dass Jesus nicht Schreckensbilder malt, um den Menschen Angst zu machen. Vielmehr sollen sie dazu dienen,

in Verantwortung voreinander und miteinander zu leben. Was kann Jüngstes Gericht anderes sein, als ein Rechenschaftsbericht über das eigene Leben? Dass menschliches Tun nicht folgenlos bleibt und auch Schmerz evoziert, braucht kaum erklärt zu werden. Angefangen vom eindringlichen Warnen der eigenen kleinen Kinder vor der heißen Herdplatte, die dann doch berührt wird, bis hin zu komplexen Zusammenhängen von Umweltzerstörung, in die ich eingebunden bin, reicht die Verstrickung des Menschen in Leid und Schuld. Und wo noch Ideologie hinzukommt, wird es verworrener und auch dramatischer.

Rechenschaft ablegen ist zunächst erst einmal düster. So steigt die erste Arie in der gleich zu Gehör kommenden Kantate mit düsteren instrumentalen Tönen ein, um die Endzeitsituation angemessen musikalisch zu untermalen. Der Tenor singt dazu Der Sünden Maß ist voll gemessen, doch euer ganz verstockter Sinn hat seines Richters ganz vergessen.“

Sünde ist die Entfremdung des Menschen von Gott mit dem Ergebnis einer gnadenlosen

Ich-Bezogenheit. Damit entfernt er sich immer weiter von ihm. Bilder vom jüngsten Gericht rufen das mahnend in Erinnerung.

Heute stellt sich die Frage, ob wir uns von diesen Bildern noch ansprechen lassen. Oder deckt nicht Gottes Liebe alles zu, was wir an Schaden anrichten?

Ja und Nein, liebe Motettengemeinde.

Ja, am Ende wird alles gut werden. Jesus Christus garantiert uns das gute Ende.

Das heißt aber nicht, dass alles überkleistert wird, was schief gelaufen ist. Wir Menschen, besonders in der Kirche, neigen gerne dazu, Dinge, die unangenehm sind, unter den Teppich zu kehren, bis der Dreckhügel so hoch ist, dass wir darüber stolpern und uns ein Bein brechen. Dann ist das Gejammere groß.

Gott wird Rechenschaft fordern für unser Schweigen, für unsere Worte, die guten wie auch die aus Lüge geborenen Worte. Wir werden uns verantworten müssen für Bequemlichkeit oder Aktionismus. Davor werden wir uns nicht drücken können.

Viele Möglichkeiten schenkt uns Gott umzukehren vom falschen Weg, Möglichkeiten, dem Bösen zu widerstehen. Oft schlage ich sie als Mensch aus, weil ich die Orientierung verliere im Gewirr einer multioptionalen Gesellschaft. Werte gehen verloren oder die Orientierungsskala verschiebt sich.

In der momentanen Krise ist jeder und jede gefragt, genau zu überlegen, was der eigene Beitrag sein kann, um etwas für unsere Gesellschaft zu tun, um Verantwortung für die Schöpfung zu übernehmen, oder um der nachfolgenden Generation noch Gestaltungsspielräume zu überlassen.

 

Wenn wir alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, werden auch Tränen fließen ob der vielen Fehler, die ich nun einmal mache als Mensch.

Auch wenn die Tränen nicht das letzte Wort haben werden - Es gibt keine billige Gnade ohne Verantwortung.

Das Ende wird gut werden. Gott sei Dank im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein Mitstreiter, ein Held, ist mir zur Seite gestellt. Der Held Israels, zu dem ich mich hinwenden kann. Als Fürsprecher hilft er mir hindurch, tröstet mich und wird abwischen alle Tränen.

Mögen wir uns daran orientieren. So will ich voller Vertrauen einstimmen in die Bitte aus dem Choral am Ende der Kantate:

 „Leit uns mit deiner rechten Hand

und segne unser Stadt und Land;

gib uns allzeit dein heilges Wort.“

 

Amen.

 

Lesung Matthäus 24, 21-28

 

21 Denn es wird dann eine große Bedrängnis sein, wie sie nicht gewesen ist vom Anfang der Welt bis jetzt und auch nicht wieder werden wird.

22 Und wenn diese Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Mensch selig werden; aber um der Auserwählten willen werden diese Tage verkürzt.

23 Wenn dann jemand zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus!, oder: Da!, so sollt ihr's nicht glauben.

24 Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, sodass sie, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführten.

25 Siehe, ich habe es euch vorausgesagt.

26 Wenn sie also zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste!, so geht nicht hinaus; siehe, er ist drinnen im Haus!, so glaubt es nicht.

27 Denn wie der Blitz ausgeht vom Osten und leuchtet bis zum Westen, so wird auch das Kommen des Menschensohns sein. 28 Wo das Aas ist, da sammeln sich auch die Geier.