Motettenansprache
- 27.03.2021
- Prof. Dr. Andreas Schüle
Die Orgel als Instrument des Jahres 2021
Die Orgel ist bundesweit zum Instrument des Jahres 2021 gekürt worden. Das ist vermutlich kein Zufall und sicher eine sehr weise Entscheidung. Gerade in diesen mageren Zeiten, in denen keine Orchester und keine Chöre musizieren dürfen, ist die Orgel ein Fels in Brandung. So auch hier bei uns in der Thomaskirche. Unsere beiden Instrumente, die romantische Sauer-Orgel und die barock ausgelegte Woehl-Orgel haben uns durch ein ganzes Jahr der Pandemie getragen – auch wenn anderes nicht möglich war, auch wenn die Thomaner nicht singen durften.
Orgeln gibt es schon sehr lange. Die ältesten Beispiele, von denen wir etwas wissen, gehen bereits in das dritte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück. Auf dem Bodenmosaik einer römischen Villa in der beschaulichen Gemeinde Perl im Saarland sieht man ein Instrument, das so aussieht wie eine kleine Orgel. Im Lauf der Jahrhunderte (und man kann fast schon sagen der Jahrtausende) eroberte die Orgel alle Kontinente – von der Dorfkapelle bis zum Konzertsaal. Eine der größten Orgeln überhaupt findet sich im Wanamaker Einkaufszentrum in Philadelphia. Sie hat etwa 28000 Pfeifen.
Es gibt Orgeln, die wie eine Flötengruppe klingen, und solche, die ein ganzes Symphonieorchester imitieren. Keine ist wie die andere, aber ihnen allen ist dieser erhabene, schwebende Klang gemeinsam, der vermeintlich aus dem nichts kommt. Orgeln scheinen sich selber zu spielen. Man hört sie, man sieht sie, aber die Person am Spieltisch verschwindet hinter alle dem. Das ist etwas undankbar. Für fast jedes Instrument gibt es heute einen Personenkult - Starpianisten, Stargeiger, Startrompeter, die man virtuos ihre Instrumente bearbeiten sieht. Organisten haben es da schwerer. Das Instrument ist der Star. Wer es spielt, sollte kein allzu großes Ego haben, denn er muss sich mit der Rolle des treuen Dieners oder der Geburtshelferin begnügen, damit das Instrument seine Arbeit tun kann.
Vielleicht liegt darin aber das Geheimnis der Orgel. Sie erzeugt Klänge, die über sich hinausweisen. Orgelmusik füllt einen Raum und nimmt diejenigen ein, die sich darin befinden. Vorhin haben wir das große Präludium in e moll von Nicolaus Bruhns gehört. Es ist eines der definierenden Werke der norddeutschen Orgelschule und wurde geschrieben für Kirchenräume mit besonderem Hall. Vielleicht ist es ihnen aufgefallen: Da gibt es lang liegende Töne im Bass, kaskadenförmige, schnelle Bewegungen in den Hauptstimmen und immer wieder lange Pausen. All das zusammen schafft Klänge und Klangflächen, die den Raum sanft durchfluten oder ihn wie ein Gewitter aufwühlen, um dann nach und nach zu verebben. Es ist so, als wäre man selber mittendrin in diesem Klang, als würde die Seele den Körper für einen Moment verlassen, um sich in einer ganz anderen Welt wiederzufinden – einer Welt, die abgründig ist und zugleich heilig, die erschüttert und erhebt.
Es ist das Wunder von Musik überhaupt, dass sie uns aus der Enge des eigenen Selbst herausholt. Musik lässt uns anders erleben und empfinden als wir das im Alltag tun. Sie lässt uns ahnen, dass es da noch etwas anderes gibt, etwas im Diesseits, das zugleich ein Jenseits ist. Auch ein einfaches Lied, eine simple Melodie kann das tun. Aber es scheint doch so, dass sich die Orgel darauf spezialisiert hat: Mit ihrem Klang tut sich eine Transzendenz auf, die die Seele berührt.
Vielleicht ist das so, weil die Orgel im Raum der Kirche und der Gemeinde ‚aufgewachsen‘ ist. Selbst wenn man sie heute in Konzertsälen und sogar Kaufhäusern findet, ist sie ein Kind der Liturgie, des Chorals, des gemeinsamen Betens und Singens. Ihre Stimmung und Gestimmheit ist dort entstanden, wo Menschen zu allen Zeiten Gott gesucht und Gottes Wort gehört haben. Das hat auf die Orgeln abgefärbt. Und sie haben dann umgekehrt das ihre dafür getan, dass Menschen Glauben haben konnten und dass dieser Glaube die Nähe Gottes erfahren durfte.
Das bedeutet nicht, dass Orgelmusik immer ‚erbaulich‘ oder ‚erhebend‘ ist. Sie kann einem, ganz im Gegenteil, auch den Schmerz, das Leid, die Fragilität, die Schwäche und ja, die Sünde und Schuld des eigenen Lebens auf die Seele legen.
Wir werden nachher von Johann Sebastian Bach die Fantasie und Fuge in c moll hören. Das ist Orgelmusik in ihrer ganzen Schwere und Traurigkeit für die Passionszeit. Das Stück hat Bach vielleicht noch in seiner Weimarer Zeit geschrieben. Wer genau hinhört, wird darin Bachs spätere Passionsmusik vorweggenommen finden. Das Stück beginnt am tiefsten Punkt, den die Orgel noch erfasst, das tiefe C ganz links unten im Pedal. Darauf baut sich dann ein Motiv auf, das schon die Umrisse der späteren, großen Arie „Erbarme Dich!“ aus der Matthäuspassion zeigt. Und dann wird es beklemmend eng. Halbtonschritte, der „etwas harte Gang“, wie es in der Musiklehre heißt, „Querstände“ und anderes mehr – das alles schafft eine unerlöste, bedrängte Intensität. Vom tiefen C springen die Stimmen nach oben, nur um sich dann langsam, aber irgendwie unaufhaltsam wieder in der Tiefe zu versenken. Die Orgel mit ihren gedeckten und scharfen und knatternden Registern tut das ihre dazu, dass uns die ganze Lethargie und Letalität der Passion Jesu ans Herz und unter die Haut geht. Wer sich darauf einlässt, wird verstehen, worum es am Karfreitag geht: dass am Kreuz Jesu auch etwas von uns sterben muss – der verbrauchte, verschlissene Mensch, der keine Zukunft mehr hat. Das ist deshalb beklemmend, weil wir meinen, dass es keine Alternative zu diesem Menschen gibt und ihn darum auch nicht loslassen wollen oder können.
Martin Luther hat einmal gesagt, dass Gott das Evangelium auch durch die Musik predigt. Im Unterschied zu dem, was auf der Kanzel geschieht, ist die Predigt der Orgel eine Predigt ohne Worte. Das heißt nicht, dass sie deswegen eine Predigt ohne Logik wäre. Die Orgel ist ein sehr logisches Instrument. Sowohl in ihrer äußeren Erscheinung wie auch in ihrem Innenleben ist sie das Ergebnis minutiöser Planung. Wer sich einmal damit befasst hat, wie eine Orgel aufgebaut ist – die einzelnen Werke, die Register, die Temperierung und Abstimmung –, der weiß , wie feinteilig es hier zugeht. Man muss schon etwas von Mechanik und Mathematik verstehen, wenn man Orgeln bauen oder spielen will. Aber wie das bei allen Kunstwerken so ist: Am Ende sieht man das alles nicht mehr. Am Ende steht der Klang, der Eindruck, die Wirkung, die man nicht erklären kann. Eine Orgel predigt anders als die Kanzel, weil hier nicht nur eine Stimme, sondern viele Stimmen zusammen sprechen uns singen. Dass Orgelmusik auf diese Weise ein Vorgeschmack auf die himmlischen Chöre ist, haben Menschen zu allen Zeiten gefühlt.
Gottes Wort will nicht nur verstanden, sondern mit allen Sinnen begriffen und verinnerlicht werden. Aber dazu muss dieses Wort erst einmal die harte Schale unserer Meinungen und unseres vermeintlich gesunden Menschenverstandes durchbrechen. Es muss einen Bogen herum um unsere robusten Vorstellungen machen, wie die Welt ist oder sein soll. Und es gibt keine Garantie, dass das gelingt. Es kann sein, dass Gottes Wort bei uns ein Leben lang im Wartezimmer sitzen muss, weil wir es nie an uns heranlassen. Musik kann die Wege bahnen und die Türen öffnen, die zu unserem innersten Wesen führen. Sie findet den Ort, wo wir uns nichts mehr vormachen, wo keine Fassaden und Attitüden sind. Weil das so ist, hat Musik – und Orgelmusik im Besonderen – etwas Heilsames, etwas Therapeutisches. So haben es vielleicht alle Orgelbauer, Komponisten und Organisten auch verstanden.
Liebe Gemeinde, gerade dieser Ort und dieser Raum, in dem wir uns jetzt befinden, mit seiner langen Tradition ist für die ‚Predigt der Orgel‘ ein eindrucksvolles Zeugnis. Das Zusammenspiel von Kanzel und Orgel ist nicht nur für die Menschen heilsam, die hierher kommen zu Gottesdiensten und Motetten, sondern auch für uns, die Organisten, Predigerinnen und Prediger. Die Kanzel und der Spieltisch liegen sich in diesem Raum, na ja fast, auf Augenhöhe gegenüber. So soll es sein, und so hat es Gott wohl auch gewollt, als er die Thomaskirche gebaut hat!
Amen.