Motettenansprache
- 28.11.2020
- Prof. Dr. Andreas Schüle
Liebe Gemeinde,
es ist Zeit, dass es Advent und Weihnachten wird.
Es ist Zeit, dass sich dieser besondere Glanz auf unsere Häuser und auf unser Leben legt.
Es ist Zeit, dass die Weihnachtsbotschaft ihren Weg in unsere Herzen findet.
Wir haben es uns redlich verdient. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber dieses Jahr konnte man viel früher als sonst Lichterketten und Herrnhuter Sterne in den Fenstern sehen.
Es ist Zeit, aus der Melancholie der letzten Monate herauszukommen und es sich nicht nehmen zu lassen, in den Wochen, die jetzt kommen, ein Stück Erlösung, Heilung und Freude zu erfahren.
Und vielleicht wird es eine ganz besondere Advents- und Weihnachtszeit – weniger kommerziell, weniger stressig also sonst, weil niemand erwartet, dass man auch noch dies erledigt und bei jener Weihnachtsfeier dabei ist. Weniger muss diesmal mehr sein. Aber weniger könnte diesmal auch wirklich mehr sein. Es wird einiges fehlen, und das wird man vermissen – den Glühwein am Weihnachtsmarkt, den Nikolaus für die Kinder, und natürlich das Zusammenrücken. Die Weihnachtbotschaft wird diesmal auf anderen Wegen zu uns kommen müssen als sonst. Aber es wird eine besondere Erfahrung sein, wenn dies trotzdem geschieht.
Morgen ist 1. Advent. Die biblische Adventsgeschichte beginnt mit drei Worten, die alles in Bewegung versetzen, die Menschen herausholen aus dem täglichen Trott, aus Lethargie und aus einem Leben, das überschaubar ist, aber sonst auch nicht viel.
Maria hat diese Worte gehört. Eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen, die bis dahin vermutlich gar nicht geahnt hat, dass ihr Leben auch ganz anders aussehen könnte als das was ihr vorgezeichnet war: Frau eines Schreiners in Nazareth, einige Kinder, die sie in nicht immer einfachen Zeiten würde durchfüttern müssen. Wir wüssten heute nicht, dass es Maria überhaupt gab, wenn sie nicht diese Worte gehört hätte, die ihrem Leben dann eine völlig andere Richtung gaben.
Auch die Hirten von Bethlehem hören diese Worte, während sie auf dem Feld vor sich hindösen und darauf warten, dass die Nacht endlich vorbei ist. Und was sie da hören, setzt sie trotz aller Müdigkeit in Bewegung und macht sie zu denen, die als erste den Stall und das Kind darin erreichen.
Es sind Worte eines Engels, weil kein Mensch sie so sagen könnte, wie sie gesagt werden müssen, mit aller Kraft und ohne jedes Wenn und Aber. Es sind Worte von Engeln, aber es ist auch das Wort Gottes für jede und jeden von uns:
„Fürchte dich nicht!“
Maria und die Hirten sind nicht die ersten, die diese Worte hören. So hatte Gott auch zuvor schon zu den Propheten, Königen aber auch zu Menschen wie du und ich gesprochen. Diese Worte hallen durch die gesamte Bibel. Sie sind das Erste, was Menschen von Gott hören sollen: „Fürchte Dich nicht!“
Aber was heißt das?
Es heißt nicht: Hab‘ keine Angst. Wir haben Angst heute, und wir werden auch morgen wieder Angst haben um viele Dinge. Das ist menschlich. „Fürchte dich nicht!“ heißt dagegen: Lass es nicht deine Angst sein, die bestimmt, was geht in deinem Leben und was nicht. Angst wird dann gefährlich, wenn sie betäubt und lähmt. Von fast allen biblischen Gestalten wird gesagt, dass sie entlang ihres Weges Angst hatten. Aber sie sind trotzdem weitergegangen, wie auch Maria und die Hirten.
„Fürchte dich nicht!“ heißt aber auch nicht „Hab Spaß!“ Es war ja vor Corona fast ein Zwang, dass alles irgendwie Spaß machen sollte und dass man das auch bitte zeigen musste. Spaß bis zum Erbrechen manchmal. „Fürchte dich nicht!“ ist dagegen der Aufruf zu einer Lebensfreude, die in die Tiefe reicht, die bleibt und die trägt, auch wenn die Zeiten mager und so gar nicht spaßig sind.
„Fürchte dich nicht!“ – das ist der Aufruf und die Ermutigung dazu, sich nicht von der Stimmung des Moments und den Launen des Zeitgeists sagen zu lassen, wie ich mich nun fühlen soll.
Mir kommt eine Tagebuchaufzeichnung des Theologen Dietrich Bonhoeffer in den Sinn. Sie stammt aus seinen letzten Lebensjahren, die er im Gefängnis von Berlin/Tegel verbrachte. Das waren zugleich die letzten beiden Jahre des 2. Weltkriegs. Bonhoeffer beschreibt, wie einige seiner Mitgefangenen zerbrachen, weil sie nichts hatten, was ihrem Leben unter diesen extremen Bedingungen noch Halt gab. Wenn nachts die Sirenen heulten, gerieten sie in Panik, weil es für Insassen natürlich keine Schutzbunker gab. Wenn dann am nächsten Tag wieder alles gut war, waren sie ganz aufgekratzt. Vielleicht kam dann noch der Anwalt mit einer hoffnungsfrohen Nachricht über eine baldige Entlassung. Aber meistens ging das Spielchen dann wieder von vorn los: Wieder Sirenen und immer noch im Gefängnis. „Wenn Trauer ist, dann sind sie ganz Trauer“, schreibt Bonhoeffer, „und wenn Freude ist, dann sind sie ganz Freude.“ Das Leben als emotionales Jo-Jo-Spiel. Vielleicht sind wir da gar nicht so weit weg davon in diesen Tagen.
Dieses „Fürchte dich nicht!“, das Maria gehört hat und das Gott auch zu uns spricht, will Halt geben, Vertrauen und Kraft, gerade dann, wenn sich das nicht von selbst versteht.
Das Magnifikat, das wir heute musikalisch hören, ist die Antwort der Maria.
Und was für eine Antwort!
Meine Seele erhebt den Herrn, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.
Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.
So kann wirklich nur jemand beten, der sich nicht mehr fürchtet. Und Maria betet nicht nur von und für sich. Sie beschreibt eine Welt, in der Gottes Gerechtigkeit und Gnade kraftvoll am Werk sind. So geht Glaube, und so will Glaube selbst lebendig werden.
Davon sollten wir uns anstecken lassen. Diese Energie und die Kraft des Magnifikat haben wir, denke ich, dringend nötig, wo wir doch gerade sehr mit uns selbst beschäftigt sind.
Denn wo sind heute die Aufrufe, rechts und links zu schauen, sich um die zu kümmern, die niedrig oder niedergeschlagen sind, die ein gutes Wort brauchen, einen Telefonanruf oder einfach auch nur eine WhatsApp, in der steht „ich denk an Dich“? Wenn Nächstenliebe und Zivilcourage gefragt sind, dann doch wohl in Zeiten wie diesen. Beim ersten Lockdown im Frühjahr hat man noch Zettel an den Häusern und in den Geschäften gesehen: „Ich kaufe für sie ein, wenn Sie nicht vor die Tür können“. Davon ist derzeit nicht mehr so sehr viel zu sehen. Dagegen werden wir eingelullt mit Fernsehspots des Gesundheitsministeriums, die uns sagen, dass es völlig okay ist, wenn wir die Schotten dicht machen. In diesen Spots sieht man Menschen, die im Rückblick darüber reden, wie das damals war zur Corona-Zeiten: „Wir waren Helden“ heißt es da, „wir haben das gerockt!“. Und warum? „Weil wir zuhause geblieben sind.“ Und dann sieht man freudig vergnügliche Menschen, die es sich mit einer Tüte Chips auf dem Sofa gemütlich machen.
Das ist die Message. Verzeihen Sie, wenn ich es so sage, aber man hat doch den Eindruck, dass es Spießbürgertum und Behäbigkeit inzwischen auch auf staatliches Rezept gibt. „Bleiben Sie zuhause!“, „Bleiben Sie gesund!“ oder, etwas kirchlicher gesprochen „Bleiben Sie behütet!“ Das ist alles. Mehr gibt’s nicht, und mehr wird offenbar auch nicht erwartet. Ich frage mich, was Maria wohl dazu gesagt hätte … .
Nein, ihr Magnifikat ist himmelweit entfernt von solch selbstgewählter Lethargie. Es ist ein Gebet, das Dynamik und Lebensfreude verströmt, weil es mit brennendem Herzen darauf setzt, dass es eine Gerechtigkeit und eine Gnade in der Welt gibt, für die es sich einzusetzen lohnt. Das Magnifikat ist für Menschen, die sich von diesen drei Worten „Fürchte dich nicht!“ trösten und zugleich antreiben lassen. So kann es Advent, so kann es Weihnachten werden. Es wird anders sein als sonst – weniger beschaulich, weniger routiniert. Aber vielleicht auch nicht nur „the same procedure as every year“. Lassen wir uns inspirieren, lassen wir uns anstecken von diesem Gebet der Maria, und vertrauen wir auf die Worte, die auch ihr Kraft gaben: „Fürchte dich nicht!“