Motettenansprache

  • 27.11.2020
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,
wir sind an einem ganz besonderen Zeitpunkt im Kirchenjahr angekommen. Dieses endet ja nicht am 31. Dezember, sondern mit dem Totensonntag, an dem man noch einmal zurückschaut und für diejenigen betet, die nicht mehr bei uns sind. Das war letzten Sonntag. Das neue Kirchenjahr andererseits beginnt am 1. Advent mit der Erwartung und der Vorfreude auf die Geburt Jesu. Das ist kommenden Sonntag, übermorgen.

Und genau dazwischen ist heute. Genau dazwischen sind wir an diesem Tag. Da ist noch die Schwere der letzten Wochen, die Melancholie und Traurigkeit, getaucht in die Morbidität des Spätherbsts. Es ist die Zeit im Jahr, wo es viele von uns auf die Friedhöfe zieht, um Lichter aufzustellen. Aber da ist auch schon die Vorfreude auf das, was jetzt bald kommt. Wenn man abends durch die Viertel von Leipzig zieht, sieht man schon die ersten Herrnhuter Sterne und Lichterketten draußen hängen. Eigentlich gilt ja gerade in Sachsen die strenge Regel, dass man vor dem 1. Advent keine weihnachtliche Dekoration aufhängen soll. Aber das scheint dieses Jahr anders zu sein. Wenn man sich so umschaut, hat man den Eindruck, dass die Menschen bereit sind für die Adventszeit, bereit für eine frohe Botschaft.

Genau dazwischen sind wir heute. Mir kommt dabei ein Erlebnis in den Sinn, das schon ein paar Jahre zurückliegt. Ich war mit meinem Bruder zum Fischen in Norwegen. Es war Ende Februar, also sehr (sehr) kalt, und wir waren mit einem kleinen Motorboot auf einem Seitenarm des Sognefjords ziemlich weit draußen unterwegs. Die Fische stehen dort nicht an der Oberfläche, sondern man muss schon dreißig, vierzig Meter und mehr in die Tiefe kommen mit den Leinen und Ködern, damit etwas anbeißt. Das ist gar nicht so einfach und körperlich recht anstrengend. Es war früh am Morgen und noch ziemlich diesig und dunkel. Zu allem Überfluss kam eine Regenfront auf uns zu und zog genau über uns drüber. Da kann man wenig machen außer eben nass werden und warten, bis es vorbei ist. Und dann war da dieser Moment. Die Wolke war gerade an uns vorbei, man konnte sehen, wie sich links vom Boot die Regenfront Stück für Stück verzog. Und genau in dem Moment ging auf der anderen Seite die Sonne auf. Nicht sehr kräftig so früh im Jahr, aber trotzdem klar und deutlich. Es war ein unwirklicher Moment. Auf der einen Seiten war es noch dunkel und unwirtlich, auf der anderen wurde es hell. Wir saßen da, klamm in unseren Regenponchos und konnten nicht viel machen außer genau das zu erleben. 

Dieses Dazwischensein markiert den Punkt, an dem wir gerade sind im Kirchenjahr – und vielleicht auch tief in uns drinnen. Die Pandemie klebt irgendwie an uns dran, aber irgendwie ist auch klar, dass es Zeit ist, sich davon frei zu machen, zumindest im Kopf und in der Seele. Irgendwann ist es Zeit, dass die Sonne aufgeht.

Dieses Dazwischensein klingt auch in der Musik an, die wir heute hören. Bachs Motette „Jesu meine Freude“ ist einerseits Grab- und Gedächtnismusik, andererseits strahlt sie eine Zuversicht aus, die so gar nichts melancholisch Morbides duldet. Sie stammt mit einiger Sicherheit aus Bachs Leipziger Zeit, und man darf davon ausgehen, dass sie für die Trauerfeier einer bestimmten Person komponiert wurde, die uns aber nicht mehr bekannt ist. Dabei werden die einzelnen Strophen des Chorals „Jesu meine Freude“ durch Zitate aus dem Römerbrief des Apostels Paulus ergänzt. Und genau diese Zusammenstellung gibt der Motette insgesamt eine erlöste Schwere und eine freudige Getragenheit. „Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister Jesus tritt herein“, so der Vers ganz am Ende, den wir nachher noch hören werden. Das ist für mich ein Schlüsselsatz, nicht nur weil er mich an das morgendliche Erlebnis auf dem Sognefjord erinnert. Die Trauergeister sind schon noch da, sie haben sich nicht – puff – einfach in Luft aufgelöst. Und das erleben wir ja auch reichlich in diesen Tagen. Aber nun gibt es die Kraft und die Zuversicht zu sagen: „Weicht ihr Trauergeister.“ Auf der anderen Seite: Dieser Jesus ist noch nicht ganz da – noch stehen wir nicht an seiner Krippe, wie am Heiligabend – aber er tritt herein, die Tür geht auf.

Dieser Vers geht dann weiter mit einem anderen, sehr schönen Bild, das uns in diesen Zeiten vielleicht weiterhilft:

Denen, die Gott lieben,
Muss auch ihr Betrüben
Lauter Zucker sein.

Ich stolpere jedes Mal, wenn ich das höre, weil sich dieser Satz so gar nicht in den Gesangbüchern findet, aus denen wir „Jesu meine Freude“ sonst singen. Da steht so etwas langweilig und bieder: Denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein“. Es gibt auch Varianten, wo etwas von „Sonne“ oder „Wohltat“ steht. Was im Gesangbuch aber fehlt, ist der Zucker! Schade eigentlich, denn der Zucker macht den Unterschied. Man kennt das ja, dass man auf etwas beißt, das zuerst bitter oder scharf schmeckt, das sich dann aber in etwas Süßes verwandelt. Das ist auf eine ganz basale Art ein Bild des Glaubens: Es gibt Dinge, die sich gegen alle Erwartungen und Befürchtungen in ihr gutes Gegenteil verwandeln, auch wenn man erst einmal eine ganze Weile auf ihnen herumkauen muss.

Es gibt eine Süße im Leben, die manchmal Zeit braucht, um sich einzustellen, ja; eine Süße, auf die man warten muss, die dann aber umso kräftiger nachwirkt und lange auf der Zunge bleibt. Ein solche Süße, solchen Zucker, wünsche ich uns allen für die Adventszeit, die nun endlich vor uns liegt.