Motettenansprache

  • 13.01.2017
  • Vikarin Teresa Tenbergen

Liebe Motettengemeinde,

drei Monate lang saß sie da. Jeden Tag sieben Stunden lang. Schweigend und unbeweglich. Ihr gegenüber ein Tisch und ein zweiter Stuhl. Auf den konnten sich die Besucher des Museums setzen, um ihr still in die Augen zu sehen, solange sie wollten. „The artist is present" hieß das Kunstprojekt von Marina Abramovic. Und es zog Menschen in Scharen in das Museum of Modern Arts in New York. 750000 standen Schlange, übernachteten sogar vor dem Museum, nur um zu sehen, was da passierte. 1500 Menschen saßen Marina Abramovic gegenüber. Sie sagte kein Wort. Sie sah ihre Gegenüber einfach nur an. Manche hielten das für längere Zeit aus, andere nicht. Viele brachen in Tränen aus. Die Fotos, die dabei entstanden sind, zeigen Menschen, die in ihrem tiefsten Innersten berührt wurden. Marina Abramovic beschrieb es selbst so: „Ich glaube, Menschen schauen nie wirklich in sich selbst hinein. Wir alle versuchen, so gut es geht, Konfrontation zu vermeiden. Aber diese Situation war von Grund auf anders. [...] Dann sitzt du mir gegenüber. Du wirst beobachtet von der Öffentlichkeit, gefilmt und fotografiert. Du wirst von mir beobachtet. Da ist nichts, wo du hingehen kannst, außer in dich selbst. Und genau das ist die Sache. [...]" Was bringt Menschen dazu, sich dem aussetzen zu wollen? Die Besonderheit dieses Kunstprojekts war gewiss anziehend. Aber vielleicht ging es doch auch um mehr. Vielleicht war da eine Sehnsucht danach, gesehen zu werden, angesehen zu sein. Ohne etwas leisten oder erklären zu müssen, ohne sich in besonderer Weise in Szene zu setzen. Die Masken fallen zu lassen. Auch die, die ich vor mir selbst aufsetze. Dann, wenn da nichts mehr steht zwischen mir und dem, der mich ansieht. Dann, wenn alles gesagt ist im Blick von Angesicht zu Angesicht.
Unser deutsches Wort „Gesicht" kommt von „sehen". Und vieles, das mit unseren Befindlichkeiten zu tun hat, steht uns ins Gesicht geschrieben. Gesichter sind die Schnittstellen zwischen dem eigenen Innen und Außen und genauso die Schnittstellen zwischen Personen. Gesichter stellen Beziehungen her und bringen Beziehungen zum Ausdruck. Der Blick von Angesicht zu Angesicht ist also eigentlich einer, der über das optische Sehen hinausgeht.
Und es ist dieser Blick, der die Beziehung zwischen Gott und Mensch beschreibt. Ein Sehen und Gesehen werden. An vielen Stellen spricht die Bibel vom Angesicht Gottes. „Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken", so lädt der vorhin gesungene 100. Psalm ein. Damit wird keine Aussage über das Aussehen Gottes getroffen, sondern über sein Wesen. „Gesicht" kommt von sehen. Wenn von Gottes Angesicht gesprochen wird, dann meint das zuerst: Gott ist der, der sieht. Der mich sieht. Der mir zugewandt ist, aufmerksam und voller Liebe. „Ein Gott, der mich sieht" ist ein biblischer Name für den Ewigen. Und ja, es gibt sie, die Momente, in denen ich mich von Gott gesehen weiß. Mit allen Fehlern, mit allen kostbaren Augenblicken meines Lebens. Wo mich dieser liebende, offene Blick dazu bringt, alle meine Masken loszulassen. Das ist schmerzhaft. Heilsam. Voller Kraft. Es gibt in der Bibel auch die Geschichten, die von der Sehnsucht der Menschen erzählen, auch Gott sehen zu können. Von Mose zum Beispiel wird berichtet, dass er Gott darum gebeten habe, ihn in seiner Herrlichkeit zu erblicken. Gott entzieht sich diesem Wunsch, er gewährt Mose lediglich ein Vorüberziehen, nur eine Ahnung. Wirklich sehen kann er Gott dabei nicht. Und doch reicht es aus, um Moses Gesicht strahlen zu lassen, so wird erzählt in der Bibel.
Ich kann Gott nicht sehen. Manchmal bleibt nur eine Ahnung. In einem Gebet, in der Musik, in den Texten der Bibel. Manchmal auch in einem Kirchenraum. Aber dann, wenn ich mir sicher bin, dass Gott mich sieht, sehe ich auch etwas von ihm, von seinem Wesen.
Es ist dieser Blick Gottes, in dem ich mich und die Gesichter der Menschen um mich in plötzlicher Klarheit sehe. Dieser Blick Gottes wird mir am Ende des Gottesdienstes mit dem aaronitischen Segen zugesprochen, wenn es da heißt: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden." Gesicht kommt von sehen. Gottes Angesicht heißt Gnade. Und unter seinem Blick kann auch ich sehen. Amen.

Vikarin Teresa Tenbergen
teresa.tenbergen@web.de