Motette zum Schuljahresabschluss

  • 29.06.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Schuljahresabschlussmotette 29. Juni 2018Johannes Brahms (1833-1897), „Fest-und Gedenksprüche" für zwei vierstimmige Chöre (1889)

Unsere Väter hofften auf dich;
und da sie hofften, halfst du ihnen aus.
Zu dir schrieen sie und wurden errettet:
sie hofften auf dich und wurden nicht zu Schanden,'
Der Herr wird seinem Volk Kraft geben;
der Herr wird sein Volk segnen mit Frieden. (Psalm 22,5-6; Psalm 29,11)

Wo ist ein so herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich tun als der Herr, unser Gott, so oft wir ihn anrufen. Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl,
dass du nicht vergessest der Geschichten,
die deinen Augen gesehen haben,
und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen
alle dein Leben lang. Und sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun. Amen. (5. Mose 4,7.9)

Liebe Motettengemeinde,
wie zu Zeit überall war es auch am Rande unserer gestrigen Kirchenvorstandssitzung so: Irgendwie hatte jeder etwas dazu zu sagen respektive zu analysieren, warum „wir" nun bei der Fußball-Weltmeisterschaft ausgeschieden sind. Die Deutschen sind ein Volk von 80 Millionen Bundestrainern hat mal jemand gesagt und da ist schon etwas dran. Nachdenklich gemacht hat mich aber, was einer in unserer Runde gemeint hat: Diese Nationalmannschaft ist ein Abbild unserer Gesellschaft: gespalten, nicht mit der nötigen Freude bei der Sache, von einer Saturiertheit, die nichts mehr erwartet und infolgedessen ist nicht mehr klar, worum es denn eigentlich gehen sollte.

Das ist sicher plakativ und auch nicht völlig ohne Häme - und weder taugt es für eine ordentliche WM-Analyse noch und erst recht nicht ist das eine umfassende Beschreibung unserer Gegenwart, aber es hat schon etwas. Denn es verändert sich gerade einiges in unserer Welt, die Lager verschieben sich, was mal unter „westlichen Werten" zusammengefasst hat, steht zur Debatte, plötzlich scheint alles möglich zwischen amerikanisch-nordkoreanischem Schulterschluss und Atomkrieg und mit dem nächsten Tweet kann dann schon wieder alles anders sein. Was und wer ist verlässlich? Wir erleben den Spalt zwischen denen, die Orientierung in der Abgrenzung suchen, nationale Interessen und Vorrang betonen, das Ende des Multilateralismus ankündigen und denen, die davon überzeugt sind, dass die aktuellen Probleme und Herausforderungen nur mit einer Erneuerung und Vertiefung des europäischen Gedankens und des Zusammenwirkens zu bewältigen sind. Dass es dabei auch zu unterschiedlichen Einschätzungen darüber kommt, wo die Probleme wirklich sind und sich bei vielen der Eindruck einstellt: Sind wir bei unserem öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs eigentlich wirklich bei den wichtigen und eigentlichen Themen im Moment? - das verwundert nicht. Und dass das bei vielen zu Verunsicherung und Verdruss führt und die wahre Freude, die Dinge anzugehen, sich bei vielen eben auch nicht so richtig einstellen will.

Vielleicht brauchen wir alle, ob in der Schule, ob im Chor, ob in der Kirche, in unserer Stadt, überall wo wir uns verorten wollen, im Moment besonders viel Kraft. Nicht nur, um uns zu motivieren, sondern um für uns klarzustellen, woran wir uns orientieren wollen, was für uns verlässlich bleibt und was wir nicht zur Debatte stellen wollen an Werten und Errungenschaften, die wir uns zu großen Teilen ja nicht selbst verdanken, sondern denen, die vor uns dafür eingetreten sind und nicht selten einen hohen Preis dafür bezahlt haben. Die musikalische bzw. liturgische Rahmung dieser Schuljahresabschlussmotette durch unseren Thomaskantor bringt uns geradezu darauf, an diesem Punkt innezuhalten und zu gucken, was uns unsere Tradition denn anbietet, um uns in unserer Welt eine Meinung und eine Haltung bilden zu können, worauf wir zurückgreifen können in unserer Suche nach Orientierung. Und vielleicht tut uns das ganz gut, die Aufforderung des letzten Fest-und Gedenkspruchs von Johannes Brahms mit in die Sommerferien zu nehmen, der die Motette nachher beschließen wird. Brahms vertont dort einen Text aus dem 5. Buch Mose:
„Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl,
dass du nicht vergessest der Geschichten,
die deinen Augen gesehen haben,
und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen
alle dein Leben lang."

Hüte dich - bewahre deine Seele - vergiss nicht. Dieser Dreiklang basiert auf einer Erfahrung, an die ebenfalls erinnert wird, auch schon im ersten der Gedenksprüche: Die Erfahrung, die das Volk Israel immer wieder von neuem motiviert hatte, die es immer wieder hat aufbrechen lassen, heraus aus Sklaverei, Exil und den Sackgassen, in die man sich allzu oft selbst hineinmanövriert hatte: dass Gott sich den Seinen „nahe tun wird", wie es in der Brahms‘schen Textfassung heißt. Es war die Erfahrung, was auch immer geschieht, Gott bleibt an der Seite derer, an die er sich selbst gebunden hat, er bleibt bei den Menschen durch alle Durststrecken und Katastrophen hindurch. Die neuen Kräfte und die Ermutigung zu neuen Wegen erwachsen immer wieder aus dem Vertrauen in diese Begleitung. Und für das Volk Israel war es klar: Neue Kräfte und die Ermutigung zu neuen Wegen erwachsen auch immer wieder neu aus der Beschäftigung mit den Geboten, mit dem Nachdenken darüber, mit ihrer Auslegung und der Bereitschaft, sie zu hören, wie sie in die jeweilige Situation hineinzusprechen vermögen. Von daher wird diese dreifache Ermahnung „Hüte dich, bewahre deine Seele, vergiss nicht" deutlich: Wenn Du diese Grundlagen vergisst, bzw. Zitat „wenn Du sie aus deinem Herzen kommen lässt", dann gibst Du etwas sehr Wichtiges und Kostbares auf, was Dir gerade in den schwierigen Situationen helfen wird: Gottvertrauen. Für sich zu wissen: Gott hat sich an mich gebunden, er ist mit mir unterwegs, ich kann etwas wagen, ich kann auch neu beginnen, ich kann auch Altes zurücklassen. Wo ich aus der Grundhaltung dieser Dankbarkeit heraus mein Leben gestalten, ja, im wahrsten Sinne des Wortes, führen kann. Und aus dieser Haltung heraus werden mir dann auch die Maßstäbe um so wichtiger werden können, die aus diesem Glauben erwachsen: dass jeder Mensch, woher er auch kommt und was er immer er will, wovon er träumt, mit welchen Absichten auch immer, ein Mensch ist und als solcher behandelt zu werden hat. So klar und deutlich muss man das sagen und erinnern, solange aus Seenot geretteten Menschen der Zutritt an Land verwehrt wird oder Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen dafür angeprangert werden, dass sie Menschenleben retten und man sie auf eine Stufe stellt mit Kriminellen, denen Menschenleben nichts, aber auch gar nichts bedeuten.

Wie wahr, wie gut diese Mahnung allein schon an diesem doch eigentlich so selbstverständlichen Punkt: Hüte dich, bewahre deine Seele, vergiss nicht. Immer wieder mit den Grundlagen anfangen, sie erinnern, die Worte in Mund und Herzen zu bewegen, in dieser Glaubenstradition ist Jesus selbst aufgewachsen und auch er hat sie gelehrt, hat Menschen wieder zurückgerufen in die Gemeinschaft mit anderen, hat sie ihr Leben und ihren Weg neu sehen lassen, hat sie aufgerufen, sich neu auszurichten. Und hat sie angehalten, auch im Feind noch den Menschen zu sehen. Man muss ihn nicht zum Freund haben - aber zum Mitmenschen. Man muss ihn nicht mögen, das wird nirgends verlangt, sondern ihn nur lieben. Ja, das geht. Das zu bewahren, sich vor anderem zu hüten, sich selbst dazu anzuhalten, sich dazu zu motivieren, zu disziplinieren - das ist immer dran. Und in diesen Zeiten vielleicht besonders.

„Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl,
dass du nicht vergessest der Geschichten,
die deinen Augen gesehen haben,
und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen
alle dein Leben lang."
Für Euch, die ihr heute die Schule und den Thomanerchor verlasst, hoffe ich, dass das natürlich auch in besonderer Weise für das gilt, was Ihr in den vergangenen acht-neun Jahren dort erlebt habt und was ihr von dort mitnehmt: dass es Euch nicht aus dem Herzen kommen möge Euer Leben lang. Wir danken Euch jedenfalls für alles, was Ihr hier lasst bei uns mit Eurem Singen in den Motetten, in den Gottesdiensten und Konzerten. Denn auch das gehört zu den, was uns immer wieder neue Kraft schenkt und so Gott will, schenken wird. Danke Euch, Danke allen Thomassern, Danke dem Thomaskantor, Danke allen, die mit und für Euch da sind. Amen.

Gebet
Unser Gott, ein Schuljahr liegt hinter uns mit Höhen und Tiefen. Wir danken Dir für dein Geleit durch beides und wir bitten Dich darum, dass wir in den kommenden Wochen Ruhe finden und Abstand. Wir bitten Dich für alle, die im Alumnat, in der Thomasschule, in den Einrichtungen des forum thomanum, in der Anna-Magdalena-Bachschule und in der Kirchgemeinde Dienst tun darum, dass sie es mit Freude tun können und mit den Kräften, die Du schenkst. Wir bitten Dich für die Familien der Thomaner, die so viel dazu beitragen, dass wir das gesungene Lob Gottes hier immer wieder hören. Lass uns einander in dem, was wir tun, achten und unterstützen. Dazu hilf uns und schenk uns von dem, wovon Du reichlich hast, dass es wir es in unseren Herzen bewahren: Güte.
So beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org