Meditation zur Komplet
- 24.12.2024 , Heiliger Abend
- Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle
Liebe Christnachtgemeinde,
nun sind wir noch einmal hier in der Thomaskirche. Manche von uns schon zum zweiten oder gar dritten Mal an diesem Abend. Das Familienessen ist vorbei, die Geschenke sind ausgepackt, die ersten Kerzen am Weihnachtsbaum abgebrannt.
Und nun darf es dunkel werden. Nun darf die Heilige Nacht ihr eigenes Geheimnis erzählen. Wir lassen die Stille Raum greifen und hören hinein in uns selbst.
Zeit für jede und jeden, für sich selbst zur Krippe zu kommen – auf den eigenen Wegen mit den eigenen Gedanken. Zeit dafür, die Sehnsüchte, die Hoffnungen und auch die Verzweiflungen an die Oberfläche zu lassen, die sonst unter der Decke bleiben müssen.
Der Dichter Paul Gerhardt hat für diesen Moment die Worte gefunden:
Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohlgefallen.
Was wünsche ich mir wirklich, wenn ich in die Krippe hineinschaue? Was gibt es dort für mich zu sehen und zu finden? Da liegt der Heiland der Welt – wird er auch mich heil machen?
Wenn alles still wird, wenn es Nacht geworden ist, darf die Seele sprechen, darf zum Kind in der Wiege bringen
die Verletzungen eines ganzen Jahres, die immer noch nagen und bluten,
den Schmerz über das, was verlorengegangen ist,
die ganzen Ungereimtheiten in den Beziehungen zu anderen Menschen,
die eigene Unerlöstheit, die man nur allzu gut kennt,
die Sorge darum, wie es in dunklen Zeiten weitergeht mit einem selbst und denen, die man von Herzen liebt.
All das gehört hierher, gehört zur Krippe.
Wann oft mein Herz im Leibe weint,
und keinen Trost kann finden,
rufst du mir zu: „Ich bin dein Freund,
ein Tilger deiner Sünden.
Was trauerst du, o Bruder mein?
Du sollst ja guter Dinge sein,
ich zahle deine Schulden.
Da ist das tief drinnen weinende Herz, da ist aber auch der Freund und Bruder, der Trost bringt.
An Weihnachten versuchen wir uns darauf einzulassen, dass das auch für uns wahr sein könnte, für Dich und für mich.
In der Heiligen Nacht, wenn alles schläft, darf die Hoffnung aufwachen, dass der Schöpfer aller Dinge, der, den kein Universum fassen kann, sich so klein macht, dass er auch in mein Leben hineinpasst, zu mir kommt und bei mir bleibt.
An Weihnachten geht es um ein Kind, aber nicht um Kinderglauben. Wenn Gott tatsächlich Mensch wird und elend, nackt und bloß in einer Krippe liegt, dann gibt es Hoffnung auch für mich. An der Krippe entscheidet sich, ob es lohnt zu hoffen, zu glauben, zu lieben.
Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.
Die Heilige Nacht taucht uns ein in das Geheimnis des Glaubens:
Gott wird Mensch, senkt sich hinein in unsere Unvollkommenheit und Endlichkeit.
Gott macht uns zu seinem Bild, lässt in jedem und jeder von uns etwas von seinem Glanz strahlen. Dieser Glanz will hinausgetragen werden, will hell leuchten,
auch wenn es wieder Tag wird,
auch wenn die Heillosigkeit der Welt allen Glanz ersticken will,
auch wenn wieder die Nachrichten kommen, wo es lodert und brennt.
Aber das ist nicht jetzt. Jetzt ist Weihnachten, jetzt ist Heilige Nacht. Keiner kann das verhindern, niemand kann es wegnehmen. Mehr braucht es nicht.
Du hast mit deiner Lieb erfüllt
Mein adern und Geblüte
Dein schöner Glanz dein süßes Bild
Liegt mir ganz im Gemüte
Und wie mag es auch anders sein
Wie könnt ich dich mein Herzelein
Aus meinem Herzen lassen?
Wir sind da,
wir sind angekommen,
schließen das Kind in der Krippe in unser Herz ein
und lassen den Glanz von Weihnachten in uns Licht werden.
Amen.