Gedanken zum Tag
- 25.06.2020
- Pfarrer i. R. Christian Wolff
Gefährliche Parallelwelten
Als ob die Coronakrise uns nicht schon genug abverlangt – jetzt auch noch das: Gewaltexzesse wie der in Stuttgart. Das Beunruhigende: Mit Stuttgart und mit der Polizei haben die Zerstörungen durch alkoholisierte junge Männer relativ wenig zu tun. Das hätte sich in jeder anderen deutschen Stadt auch abspielen können. Mehr noch: Was in der nächtlichen Gewaltorgie zum Ausdruck kam, ist dasselbe, was wir – teilweise zeitgleich -auf allen Ebenen unserer Gesellschaft erleben: eine sich von allen moralischen Maßstäben losgesagte Gewalt, die sich rücksichtslos gegenüber andere Menschengruppen entlädt – wie der skrupellose Kartenhaus-Kapitalismus a la „wirecard“ oder eine gewalttätige Fleischproduktion a la „Tönnies“, die die Menschenwürde und das Tierwohl systematisch aushöhlen.
Es gibt eben nicht nur unter jungen Menschen eine erhebliche Anzahl, die sich in einer gefährlichen Parallelwelt bewegen und an einen entscheidenden Grundkonsens nicht mehr halten: In unserer pluralen Gesellschaft hat jeder Mensch ein Recht auf Leben, Würde, Unterschiedlichkeit; die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft findet ihre Grenze in dem Lebensrecht des anderen, d.h. niemand kann absolut autonom und bindungslos existieren. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Absage vieler Menschen an eine außerhalb unserer Verfügung stehenden Instanz Gott, vor der jede/r sein/ihr Leben genauso zu verantworten hat wie vor den auf dieser Erde lebenden Menschen, hat tiefgreifende gesellschaftliche Folgen – nicht zuletzt die der Beziehungslosigkeit, des asozialen Egoismus und der gewaltbereiten Rücksichtslosigkeit. Oder auf die Stuttgarter Ereignisse bezogen: Da versammelten sich lauter kleine Trumps - egoistisch, asozial, herrisch, menschenverachtend.
Wir stehen also vor der Herausforderung, für die Erneuerung des Grundkonsenses zu streiten, die ethisch-moralische Wüste in den Köpfen und Herzen mit den Grundwerten zu bewässern. Heute möchte ich an das Gewaltmonopol des Staates erinnern – eine wichtige Errungenschaft der Demokratie. Dieses war schon im Augsburgischen Bekenntnis (CA), heute vor 490 Jahren erstmals veröffentlicht, vorgezeichnet. Keine/r darf als sein eigener Sheriff mit der Knarre in der Hand herumlaufen und das mit Gewalt durchsetzen, was er/sie für Recht hält. Dafür ist u.a. die Polizei zuständig. Deren Handeln aber unterliegt der demokratischen Kontrolle. Schützen wir dieses hohe Gut.
Christian Wolff, Pfarrer i.R.
www.wolff-christian.de