Gedanken zum Tag

  • 17.06.2020
  • Landesbischof i.R. Christoph Kähler

Es war vor 67 Jahren, als unsere Jungengruppe vom Erholungsheim bis zur Stadtkirche in Eisenach wanderte. Dort saß ein russischer Soldat mit der Kalaschnikow in den Händen und weitere Bewaffnete standen am Markt in Sichtweite. Das war auch damals so auffällig, dass ich unseren Betreuer gleich fragte, was denn da los sei. Doch dieser Theologiestudent verhielt sich, als ob er die Warnung aus Prediger 10,20 gerade gelesen hätte und beherzigen wollte: „Fluche dem König auch nicht in Gedanken und fluche dem Reichen nicht in deiner Schlafkammer; denn die Vögel des Himmels tragen die Stimme fort, und die Fittiche haben, sagen's weiter.“  Eine wirkliche, also politische Erklärung wagte der Student jedenfalls nicht. Die holten erst nach der Kur meine Eltern zu Hause nach, als sie knapp und klar vom 17. Juni 1953 berichteten. Doch auch sie verbanden das mit der dringenden Bitte, darüber außer Haus nicht zu sprechen.

Eine Generation später müssen wir als Eltern Ähnliches angedeutet haben, denn unsere kleine Tochter fragte in DDR-Zeiten bei jedem neuen Gesicht in ihrer Umgebung, ob das auch Christen sind oder nicht. Die Vorsicht, dass man nicht allen alles sagen könne, hatte sie schon in Kindergartenzeiten verinnerlicht.

Aber 35 Jahre nach dem Arbeiteraufstand überlegten einige Studenten und ihre Freunde, ob solche Vorsicht nicht auch gefährlich sein kann, und übten heftige Kritik an kirchlichen Verantwortlichen. Bis heute beschäftigt viele von uns die Abwägung zwischen Feigheit und Gefährdung anderer, zwischen lebensnotwendiger Vorsicht und bequemer Untätigkeit.

Der 17. Juni 1953 ist lange her, aber die Fragen, was Christen in solchen Zeiten und unter solchen Umständen tun und lassen dürfen, wie verantworten können und wo helfen müssen, ist bis heute immer wieder neu zu bedenken.