Dialogpredigt über Matthäus 15,21-28
Diese Predigt wurde im Festgottesdient aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des forum thomanum Leipzig e.V. von Pfarrerin Britta Taddiken und Pfarrer i.R. Christian Wolff gehalten.
- 09.10.2022 , 17. Sonntag nach Trinitatis
- Pfarrerin Britta Taddiken und Pfarrer i.R. Christian Wolff
Dialog-Predigt über Matthäus 15,21-28
17. Sonntag nach Trinitatis
09. Oktober 2022, Thomaskirche Leipzig
21 Und Jesus ging weg von dort und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. 23 Er aber antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. 24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! 26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. 27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. 28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Matthäus 15,21-28
Britta
Das ist doch mal eine Geschichte – kaum zu glauben, dass die in der Bibel steht! Da kommt diese Frau zu Jesus, die hat ein krankes Kind. Und es scheint ziemlich schlimm zu sein, er ist ihre letzte Hoffnung. Und was macht er? Antwortet nicht mal. Kein lieber Herr Jesus! Seine Jünger sind sogar genervt von ihrem Geschrei und er offenbar auch. Denn er sagt etwas ganz Schreckliches zu dieser Frau: Für Dich bin ich nicht zuständig. Im Grunde sagt er: Hau ab, nerv mich nicht. Lieber Christian, was ist denn hier los? Eigentlich predigen wir von Jesus doch immer etwas anderes…
Christian
Na ja, wir haben ja oft ein verklärtes Jesus-Bild und blenden die kantigen, ärgerlichen Auftritte gerne aus. Ich denke zum Beispiel daran, dass Jesus ein sehr angespanntes Verhältnis zu seiner Familie hatte. Das entspricht so gar nicht dem idealisierten Familienbild, das uns vorschwebt. Da soll es möglich harmonisch zugehen. Für Jesus aber bedeutete Familie: nicht die leibliche Mutter, nicht seine Geschwister, sondern die Menschen, die ihm nachfolgten.
Doch davon abgesehen: Für mich ist in dieser Geschichte nicht Jesus die Hauptfigur. Die zentrale Gestalt ist doch die Frau – die Frau, die so nervt, so aufdringlich auftritt. An ihr scheint alles abzuprallen, was sie an Verachtung, Abweisung erfährt. Sie empört sich noch nicht einmal über Jesu Kaltherzigkeit. Sie bleibt einfach dran.
Britta
Ja, das Dranbleiben scheint mir auch das zentrale Thema zu sein. Die Frau bittet Jesus. Er weist sie ab. Sie bleibt dran. Die Jünger wollen sie loswerden. Sie bleibt dran. Jesus vergleicht sie mit einem Tier. Sie bleibt dran.
Christian
Dranbleiben. Das ist der Grund, warum wir uns sonntags zum Gottesdienst treffen: Dranbleiben an unserem Glauben, Dranbleiben an Jesus Christus, Dranbleiben an seiner Zuversicht. Wir haben vorhin gehört, was wir Jesus verdanken: Trost, Saft und Kraft! Die Woche über aber wird an uns ständig herumgezerrt. Wir erleben so viel an Abweisung und Ablenkung, an Enttäuschung, an Frust. All das kann ziemlich negative Langzeitfolgen haben – es sei denn, dass wir dranbleiben an dem, was uns stärkt, neue Kräfte verleiht, Vertrauen und Hoffnung schenkt.
Britta
Ich finde ja auch, dass der 9. Oktober ein Tag ist, an dem wir daran denken, dass Menschen drangeblieben sind.
Christian
Ja, es wird oft vergessen, wie frustriert, niedergeschlagen viele Menschen in den 80er Jahren waren. Pfarrer Führer von der Nikolaikirche erzählte mir, dass Mitte der 80er Jahre nur noch ganz wenige Menschen zu den Friedensgebeten kamen. Da gab es Überlegungen, die Friedensgebete einzustellen. Aber wenige blieben dran. Wenige gaben nicht auf. Diese Wenige waren es, die dann - wie in der Begegnungsgeschichte mit der Frau - trotz aller Abweisungen, aber mit ganz viel Hoffnungskraft für „Heilung“ einer kranken Gesellschaft sorgten.
Britta
Weil sie sich etwas getraut, zugetraut haben. Damals war es gefährlich, auf die Straße zu gehen. Sie haben nicht aufgegeben. Und schließlich haben sie geschafft, was keiner für möglich gehalten hat: Sie erkämpften die Freiheit für alle.
Ich denke, die Geschichte von dieser Frau und ihrer Tochter steht in der Bibel, damit wir das für unser eigenes Leben begreifen: Dranbleiben wenn andere zu unseren Ideen sagen: „Och nöö, bringt nichts.“ Oder: „Ich bin nicht zuständig.“ Oder: „Als einzelner kannst du sowieso nichts erreichen.“ Doch die Frau in der Geschichte setzt dem entgegen: Jetzt geht es erst richtig los. Jetzt setze ich alle Kraft ein, die ich habe. Für mich ist das eine Art Glaubensakt: Gegen alle Widerstände das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Christian
Nun denken wir an diesem Tag nicht nur an den 9. Oktober vor 33 Jahren und an die Friedensgebete, die seit 40 Jahren in der Nikolaikirche stattfinden. Wir feiern ja auch 20 Jahre Bildungscampus forum thomanum. Das ist auch eine Geschichte des Dranbleibens. Denn als die Idee um 2000 geboren wurde, haben die Leute nicht gesagt: Super, darauf haben wir die ganze Zeit gewartet! Vielmehr waren wir, Thomaskantor Biller, ich selbst und einige andere von lauter Bedenkenträgern umgeben. Wie oft haben wir gehört: Ihr könnt doch nicht eine Schule bauen, wo – damals war das so – Schulen geschlossen werden müssen. Außerdem: Wie soll das viele Geld zusammenkommen? Das ist doch alles viel zu hoch gegriffen. Und: Ist das überhaupt noch zeitgemäß, „glauben, singen, lernen“ zum Bildungsziel zu erklären?
Aber letztlich konnten wir die Menschen doch überzeugen: Thomaner fallen nicht vom Himmel. Auch das Singen muss eingeübt werden. Und wir Menschen benötigen einen festen Glauben, um dranbleiben zu können an dem Wichtigen. Das zeigt ja die Geschichte.
Britta
Ich will noch mal auf die Frau zurückkommen. Mir fallen zwei Sachen auf:
- Sie bittet nicht für sich. Es geht nicht um sie selbst.
- Und sie beschimpft Jesus nicht.
Das können wir lernen von dieser Frau. Dass wir fragen: Geht es jetzt nur um mich? Für wen engagiere ich mich eigentlich? Ich kann nicht immer vom anderen fordern, dass er macht, was ich will.
Christian
Das ist, so finde ich, in unserer jetzigen Situation einen ganz wichtigen Aspekt. Viele Leute sorgen sich derzeit völlig zurecht: Wie geht es jetzt weiter in unserem Land, in Europa, mit dem Frieden? Wo müssen wir dranbleiben bzw. auch deutlich Forderungen stellen – ungeachtet dessen, was tagespolitisch debattiert wird? Und da können wir von dieser Frau viel lernen:
- Es kann nicht nur darum gehen, dass wir es jetzt in Sachsen warm haben im Winter, so wichtig das auch ist. Es geht darum, wie wir als Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen solidarisch zusammenleben. „Einer trage des anderen Last …“ heißt es an anderer Stelle in der Bibel.
- Meine eigenen Interessen, meine persönlichen Anliegen, sind immer nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was andere Menschen sich wünschen – und oft genug stehen sie den Wünschen anderer entgegen. Schon in einer Schulklasse ist das so. Niemand kann sagen: Ich bin die Schule oder ich bin das Volk!
Britta
Lieber Christian, was Du beschreibst, ist Demokratie. Es geht nur so, dass wir aufeinander Rücksicht nehmen. Nur so ist Heilung möglich. Sonst haben wir immer ein oben und unten. Oder ein „Die“ und ein „Wir“. Das überwindet die Frau mit ihrem Glauben.
Dranbleiben. Diese Frau zeigt es uns und sie zeit es sogar Jesus! Na, das ist doch mal wirklich eine Geschichte! Amen.