Besinnung am Wochenene am 15. Juli 2017
- 15.07.2017
- Prof. Dr. Matthias Petzoldt
„Von der Freiheit eines Christenmenschen", § 8
Gebot oder Freiheit?
Der heutige Sonnabend in unserer Reihe über Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" steht unter der Frage „Gebot oder Freiheit?" Diese Frage führt uns dazu, wie Martin Luther mit der Bibel als Heiliger Schrift umging.
An den vergangenen Sonnabenden war bereits davon die Rede: der Reformator schätzte das Wort Gottes hoch, wie es aus den biblischen Texten zu uns spricht. Aber in dem Abschnitt seiner Freiheitsschrift, der für uns heute im Mittelpunkt steht, erklärt er nun genauer, wie er die Bibel als Wort Gottes versteht. Im § 8 schreibt er: Die Heilige Schrift wird in zweierlei Worte aufgeteilt: in Gebot bzw. Gesetz und in Verheißung bzw. Zusage. Mit dieser Unterscheidung hat Luther nicht nur die damals verkrustete Frömmigkeit und Lebensweise aufgebrochen. Er hilft auch uns modernen Zeitgenossen heute aus immer wieder drohenden Verkrampfungen des Christseins heraus.
Im damaligen christlichen Abendland war es üblich, die Bibel als Vorschriftenkatalog für eine richtige Lebensweise zu lesen. Angefangen bei den Zehn Geboten, dann die vielen kultischen Gesetze: dieses und jenes darf man nicht essen oder zumindest nicht an bestimmten Tagen essen, die Regeln zum Fasten und vieles andere mehr. Die Bibel als eine Fülle von Geboten: Du sollst dies und das tun! Du darfst dieses und jenes nicht tun. Und die christliche Kirche mit ihrer Macht in der mittelalterlichen Gesellschaft wachte darüber, dass die Menschen auch nach diesen christlich verstandenen Geboten lebten. Mit welchem Recht tat sie das? Weil sie sich als verlängerte Arm Gottes verstand, der dafür sorgte, dass dem Willen Gottes auch im Leben auf Erden gehorcht wird. Wer den biblischen Geboten nicht gerecht wurde, dem drohte sie mit Höllenstrafen und der ewigen Verdammnis Gottes. Folglich war die Angst, vor Gott und den Mitmenschen nicht gut dazustehen, weit verbreitet. Etliche suchten den sog. Weg der Vollkommenheit einzuschlagen und gingen als Mönche oder Nonnen ins Kloster, um auf diese Weise den Versuchungen des Alltags zu entrinnen. Noch viel weiter verbreitet war damals, die Angst vor Höllenstrafen damit zu bewältigen, dass man mit Ablassbriefen sich freizukaufen suchte.
Bekanntlich ging Luther gegen diese verkrampfte Frömmigkeit vor: nicht nur mit seinen 95 Thesen gegen den Ablass, sondern gerade auch mit seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen". Und er stellt klar: Hinter dem verängstigten Leben der Christen steht ein verkehrtes Verständnis von der Bibel als Wort Gottes. Als wäre die Heilige Schrift ein Leistungskatalog, der zu erfüllen sei, um damit Gottes Anerkennung zu erlangen. Nein, erklärt Luther: Christenmenschen sind nicht Knechte Gottes, die spuren müssen. Sondern Gott achtet jeden Menschen als sein Ebenbild. Um seine Anerkennung müssen wir nicht erst buhlen und kämpfen. Nein, vielmehr geht all unserem Tun und Lassen Gottes vorbehaltlose Achtung schon voraus. Das ist seine Gnade, wie Christus, der Sohn Gottes, uns klar gemacht hat, und wie das aus dem biblischen Zeugnis hervorgeht. Aus Gottes Achtung heraus brauchen wir um niemandes Anerkennung zu kämpfen. Wir sind freie Männer und Frauen und niemandem untertan. Diese Anerkennung, diese Zusage, das ist das eigentliche Wort Gottes, das die Heilige Schrift enthält: oder in theologischer Fachsprache ausgedrückt: Das ist das Evangelium.
Moment mal, werden Sie, liebe Besucherinnen und Besucher, vielleicht einwenden: Die Bibel enthält doch neben dem Evangelium nun mal auch viele Gebote. Davon war doch schon die Rede gewesen. Wenn die Bibel Gottes Wort enthält, wie auch Luther erklärt, kann er doch mit der Betonung des Evangeliums die Gebote nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Vor allem die leitenden Vertreter der damaligen Kirche - Theologen, Bischöfe bis hin zum Papst - haben dem Reformator diesen Vorwurf gemacht und ihn zum Ketzer erklärt.
Jedoch: Luther lässt ja gar nicht das Gesetz unter den Tisch fallen! Er schreibt ja, wie wir hörten: Die Heilige Schrift wird in zweierlei Worte aufgeteilt: in Gebot bzw. Gesetz und in Verheißung bzw. Zusage. Die Verheißung oder Zusage, also das Evangelium - das ist freilich für den Reformator das eigentliche Wort Gottes. Welche Rollen spielen dann die Gebote bzw. das Gesetz? Luther erklärt - noch in diesem Textabschnitt (§ 8): Die Gebote und Handlungsvorschriften in der Bibel zeigen jedem Menschen, wie er in seinem Leben hinter dem Willen Gottes zurückbleibt. Sie halten also dem Menschen gleichsam einen Spiegel vor Augen, wie er vor Gott als frommer und moralischer Bettler dasteht. Wir Menschen alle, Christenmenschen eingeschlossen, können vor Gott nicht mit Leistungen aufwarten. Folglich lenken die Gebote letztlich unsere Blicke weg von uns selbst auf Christus hin, bei dem allein wir Hilfe und Anerkennung finden. Denn von ihm wissen wir, dass es für uns Menschen zwecklos ist, sich mit vorbildlicher Lebensweise ins rechte Licht rücken zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir uns auf Gottes Barmherzigkeit verlassen. Es ist sein Entgegenkommen, dass er uns achtet. Eben das ist ja das Entlastende und Befreiende, dass es nicht auf unser Verdienst und Würdigkeit ankommt, sondern auf Gottes großzügiges Urteil über unser Leben. Seine Zusage, uns vorbehaltlos als seine Ebenbilder zu achten, macht uns - ob Frau oder Mann - unabhängig davon, wie andere über uns denken. Es macht uns zu freien Herrn über alle Dinge; zu Herren, die sich niemandem gegenüber ducken müssen und die niemandem dienen müssen.
Liebe Besucherinnen und Besucher - mit einem Schlag sind wir von Luthers Schrift aus dem Jahre 1520 in unsere Gegenwart gelangt. Denn auch unserer vom Leistungsdenken geplagten Gesellschaft gilt die befreiende Zusage Gottes, uns Menschen vorbehaltlos zu achten, ohne uns erst mit irgendwelchen Taten und Erfolgen - ob beruflich oder moralisch oder fromm - vorher unter Beweis gestellt haben zu müssen. Freilich, die Angst vor feurigen Höllenstrafen für Versagen aller Art in unserem Leben - diese Angst plagt uns heutzutage nicht mehr. Aber wir Menschen machen uns heutzutage gegenseitig das Leben zur Hölle. Wir beurteilen unsere Mitmenschen gar schnell nach dem, was sie haben: Gesundheit, Schönheit, nach der Hautfarbe, oder nach ihrem Besitz usw. usf. Und diejenigen, welche unseren heutigen Leistungsnormen nicht entsprechen, fallen unbarmherzig herunter. Ja, wir legen an uns selber diese Maßstäbe an. Und wir knechten uns selbst, wo wir meinen, unser Leben verliere an Sinn, wenn wir den Maßstäben unserer Zeit nicht entsprechen, so dass wir fürchten müssten, von anderen gering geschätzt zu werden. Umso mehr recken und strecken wir uns dann, um Anerkennung zu finden.
Liebe Besucherinnen und Besucher: Recken und Strecken um Achtung und Anerkennung - das haben wir überhaupt nicht nötig. Denn die Anerkennung, die einen jeden Menschen groß macht, die genießen wir schon, Gottes Achtung als seine Ebenbilder. Seine Wertschätzung macht uns frei und zu Herren über alle Dinge, wie Luther es formuliert.
Mit erhobenem moralischem Zeigefinger meldet sich hierzu Widerspruch: Sollte Luther das wirklich so gemeint haben? Diese Betonung der Freiheit eines Christenmenschen öffnet doch herrischer Willkür Tor und Tür! Soll Christ zu sein wirklich bedeuten, den Herren spielen zu können? Weil sich Christen nicht an Gebote gebunden fühlen?
Dass Luther so nicht denkt, geht aus seiner Doppel-These hervor, die er an den Anfang seiner Schrift gesetzt hat und von der schon am ersten Sonnabend in unserer Reihe die Rede war. Da heißt es zunächst: Ein Christenmensch ist ein Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Aber dann fügt Luther hinzu: Ein Christenmensch ist ein Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
Aha - so der erneute Widerspruch - da haben wir es also doch: Christinnen und Christen leben also nicht nur aus der Freiheit des Evangeliums, sondern zugleich aus dem Gehorsam gegenüber Gottes Geboten!
Nein, stellt der Reformator klar: Dass wir in Verantwortung vor unseren Mitmenschen leben, das folgt nicht aus dem Gehorsam gegenüber Gottes Geboten. Sondern das ist eine Folge aus der Freiheit des Evangeliums; das ist eine Frucht des Evangeliums - wie Luther gern sagt. Und es wird an späterer Stelle unserer sonnabendlichen Reihe die Rede davon sein, wie der Reformator dies in seiner Schrift erklärt. Hier - in unserem Textabschnitt - stellt Luther klar: Die Gebote in der Bibel haben nicht die Funktion, uns Christen in den Gehorsam gegen Gott zu rufen. Sondern mit den Geboten verweist uns Gottes Wort weiter auf Christus, der uns die Anerkennung Gottes zuspricht: vorbehaltlos - ohne dass wir erst mit Leistungen der Gebotserfüllung aufwarten müssten.
So steht für den Reformator zwischen Gebot und Freiheit kein und. Zwar sind beide Gottes Wort: auf der einen Seite Gebot und auf der anderen Seite Zuspruch, auf der einen Seite Gesetz und auf der andere Seite Evangelium. Aber inhaltlich sind sie völlig verschieden. Das Gebot zwingt zum Gehorsam; der Zuspruch der vorbehaltlosen Anerkennung schenkt Freiheit. Dazwischen gibt es für Luther nur ein oder. Und es ist zu einem großen Thema der Reformation geworden, dass Gesetz und Evangelium nicht verwechselt oder vermischt werden dürfen.
Liebe Besucherinnen und Besucher, was da soeben wie eine spitzfindige Fachsimpelei mit theologischen Begriffen klingt - Gesetz und Evangelium, Gesetz oder Evangelium - , das hat unmittelbar mit unserer Lebenspraxis zu tun. Wie schnell sind wir Christen doch dabei, unseren Glauben als eine vorbildliche moralische Lebensführung auszugeben. Nach diesem Muster stellen sich nicht nur viele Nichtchristen das Christentum vor. Und hämisch zeigen sie dann auf Beispiele: „Na, die sind auch nicht besser." Dass nichtchristlichen Zeitgenossen ein derart verschrobenes Bild vom Christentum haben, liegt zu einem Großteil an uns Christen selbst, insoweit wir ihnen ein solches Bild vom Christsein vorleben: als müssten Christen bessere Menschen sein. Und hinter solch einem verkrampften Selbstverständnis steht der verkehrte Umgang mit der Bibel als Heiliger Schrift, als bestünde unser Christsein darin, die biblischen Gebote so wortgetreu wie nur möglich zu erfüllen. Dieses Missverständnis leidet schon daran, dass es nicht erkennt, wie die biblischen Gebote einst unter ganz anderen Lebensumständen formuliert worden sind als heute. Noch viel abwegiger ist es aber, was in der Bibel als Evangelium zugesagt wird, in Gesetz zu verkehren. Wenn beispielsweise Jesus von Nazareth in der Bergpredigt den Menschen zuruft: Sorget euch nicht! (Mt 6,25), dann hat er damit den Zehn Geboten nicht noch ein elftes hinzugefügt: Du sollst dich nicht sorgen! Wer nach einem solchen Gebot leben wollte, der würde entweder sich vor aller Sorge um die Erfüllung des angeblichen Gebots zur Sorglosigkeit völlig verkrampfen. Oder er würde seinen Mitmenschen mit aufgesetzter Frömmelei ein sorgloses Leben vorheucheln. Zurecht wird eine derartig verkorkste Einstellung von nichtchristlicher Seite mit Kopfschütteln quittiert.
Nein, vielmehr ruft Christus mit seinem „Sorgt euch nicht" in die Freiheit des Evangeliums: Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, denn Gott sorgt für euch.
Also, liebe Besucherinnen und Besucher, greifen wir den reformatorischen Aufbruch Martin Luthers auf: Der Sinn unseres Lebens liegt nicht einem Leistungsstreben nach Normenerfüllung, sondern in einem Leben aus der vorbehaltlosen Achtung Gottes. Das begründet die Freiheit eines Christenmenschen! Amen.
Prof. Dr. Matthias Petzoldt