"Besinnung am Wochenende" in der Lutherkirche

  • 20.07.2019
  • Prof. Dr. Matthias Petzoldt

Psalm 42,3  Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue.

 Liebe Besucherinnen und Besucher unserer Reihe Psalmen – Worte zum Leben. An den vergangenen Sonnabenden war hier in der Lutherkirche die Rede von „Lebensmut“ und von „Lebenskraft“. Solche Worte nehmen wir auch gern in den Mund - aus uns wohlbekannten Lebenslagen heraus. Selbst wenn es uns manchmal an Lebensmut gefehlt haben mag, und wir uns mehr Lebenskraft gewünscht haben mögen, so haben wir das doch auch wieder erlebt: den Mut zum Leben und die Kraft dazu, die uns geschenkt wurde.

Aber nun ist heute von „Lebensdurst“ die Rede. Klingt das nicht ein wenig übergeschnappt? Lebensdurstig mag uns ein Teenager erscheinen, ein junger Mensch, der meint, jetzt sich das leisten zu können: mal so richtig auf die Pauke zu hauen und über die Stränge schlagen zu können. Oder wird mit „Lebensdurst“ eher die Stimmungslage vorgerückten Alters angesprochen? Wo man meint, im Leben bisher zu kurz gekommen zu sein? Wo man zum Beispiel nach Reisen und nach Abenteuern hungert und sich nach Kontakten sehnt, ehe es zu spät ist im Leben?

Ich habe mich im Internet unter dem Stichwort „Lebensdurst“ umgeschaut und bin dabei auf einen Verein namens „LEBENSDURST-ICH E.V.“ gestoßen. Wenn man bloß diesen Titel liest, kann der Eindruck entstehen: Lebensdurst – das ist eine sehr Ich-bezogene Einstellung. „Ich will jetzt was erleben!“ „Ich will nicht zu kurz kommen im Leben!“ So in etwa. Doch man sollte lesen, wie sich dieser gemeinnützige Verein, 2012 gegründet, der Öffentlichkeit vorstellt. Da heißt es: „Unser Anliegen ist es, junge Erwachsene mit lebensbedrohlichen Krankheiten zu unterstützen. ‚Lebensfreude zu schenken, wenn der Lebensweg plötzlich schwierig wird‘ ist eines unserer Hauptanliegen.“ Man trifft sich regelmäßig in der Kölner Uniklinik im „Lebensdurst-ich-Café“ und lädt ein zum gemeinsamen Austausch und zu gemeinsamen schönen Aktionen, die dem Leben trotz Erkrankung ein Stückchen Normalität erhalten wollen. So kann man lesen. Die Tätigkeit des Vereins spielt sich aber nicht nur in diesem Café ab, sondern eben auch im Internet. Das Internet bietet eine Plattform, wo man seine Gedanken austauscht; wo auch Verse geschrieben werden, welche den eigenen Gefühlen Ausdruck geben und dem Bedürfnis nachkommen, sich anderen darin mitzuteilen. Da findet man unter anderem auch folgende Zeilen: „Meine geliebte Tatjana hat sich heute Früh von ihrem Leid befreit. Ihre Seele stieg auf in den schönsten Sonnenschein und strahlt nun überall….“

Liebe Besucherinnen und Besucher, so unerträglich können Krankheit, Schmerzen oder anderes Leid das Leben machen, dass der Durst nach Leben keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich von dem leidvollen Leben zu befreien. Hat hier – so könnte die Frage aufkommen – hat hier eine krankhafte Ichsucht im Lebensdurst zur Selbstzerstörung geführt? Doch Vorsicht mit einer solchen Unterstellung! Die biblische Überlieferung des christlichen Glaubens zum Beispiel kennt auch sehr wohl diesen Durst und diesen Hunger nach Leben. Nur ist hier nicht in unserem modernen Jargon vom „Ich“ die Rede, sondern von der Seele, von „meiner Seele“: Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen? fragt der Beter in Psalm 13 (3). Und im Psalm 22 (21) bittet der Psalmist in seinem nicht näher benannten Elend: Errette meine Seele vom Schwert, mein Leben von den Hunden! Ja, so fremd scheint auch heutzutage das Worte „Seele“ uns Zeitgenossen nicht zu sein, wenn zum Beispiel wir hörten: „Meine geliebte Tatjana hat sich heute Früh von ihrem Leid befreit. Ihre Seele stieg auf in den schönsten Sonnenschein und strahlt nun überall….“

Es zeugt nicht nur von Lebensweisheit, liebe Besucherinnen und Besucher, sondern es ist geradezu lebensnotwendig, dass ein jeder und eine jede sich auf sich selbst besinnt, sich darüber klar wird: Was belastet mich, oder was macht meine Sehnsucht aus. Dass wir das nicht unterdrücken, sondern aussprechen, eben damit wir mit unserer Seele, mit unserem Ich nicht allein bleiben. Das ist ja gerade auch das Ziel jenes Lebensdurst-Ich-Vereins, die schwer erkrankten Menschen, die doch nach Lebenssinn dürsten, nicht allein zu lassen, sie zu begleiten.

Und Christen wissen mit vielen anderen religiösen Menschen zusammen: Wir können unsere Bedrückungen wie auch unsere Wünsche vor Gott bringen, wir können sie vor ihm ausschütten. Die Psalmen, die wir an den Sommerwochenenden in der Lutherkirche zum Thema haben, die Psalmen halten eine Fülle von Beispielen bereit, wie Menschen all das vor Gott bringen, was sie belastet, oder wonach sie sich sehnen, worüber sie sich freuen. Die Beter der Psalmen bringen es bittend, klagend, dankend, jubelnd vor Gott. So sind sie nicht allein damit. Wo Ausweglosigkeit den Lebensweg versperrt, wissen sie um den, vor dem sie ihr Herz ausschütten können, bei dem sie Hilfe suchen können. In etlichen Psalmen kann man geradezu nachlesen, wie über dem Bitten und Klagen das Herz leicht wird und der Ton des Gebetes in Zuversicht umschlägt. In Psalm 42, der heute im Mittelpunkt steht, gelangt der Beter mittendrin (V. 6) zu den Worten: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Wohl dem, liebe Besucherinnen und Besucher, wohl dem, der Menschen hat, wie im Lebensdurst-Ich-Verein, die mich in schweren Zeiten begleiten, die mir wieder Lebensmut vermitteln; Menschen, die Niedergeschlagenen wieder einen Durst nach Leben wecken können. Und wohl dem, der wie der Beter in Psalm 42 sich an Gott wenden und ihm sein Herz ausschütten kann. Da wird ein Durst nach Leben geweckt, der sich gar zum Durst nach Gott steigert. (2) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. (3) Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?

Ein letztes Bedenken mag sich da einstellen, wenn wir diese Worte hören. Denn so selbstverständlich mit Gott rechnen und so vertrauensvoll sich an ihn wenden, wie wir das eben aus dem Psalm hörten, das mag den Menschen damals im Alten Testament möglich gewesen sein. Aber heutzutage - sitzen da im Gottesglauben nicht tiefe Zweifel? Dieses Problem jetzt auszubreiten, würde freilich sehr weit führen. Aber so viel sei jetzt in aller Kürze dazu gesagt: Es handelt sich dabei nicht nur um moderne Zweifel. Dem Christentum sind sie von Anfang an vertraut. Eben in das Schwinden des alten Gottesglaubens hinein ist ja Gott in dem Menschen Jesus von Nazareth erschienen, um uns Menschen ganz nahe zu kommen. Doch haben sich schon im Kreis seiner Nachfolger, seiner Jünger Zweifel eingestellt. Das Johannesevangelium erzählt im 6. Kapitel davon. Als sich einige Jünger von ihm abwandten, (67) sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr auch weggehen? (68) Da antwortete  Simon Petrus: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“

Bei ihm, bei Christus, liebe Besucherinnen und Besucher, wird Lebensdurst gestillt. Er hat Worte des ewigen Lebens. Und er gibt uns auch die Kraft dazu, anderen Menschen in ihren schwierigen Lebenslagen beizustehen, so wie das zum Beispiel die Mitglieder des Lebensdurst-Ich-Vereins tun. Amen.                                                                    

                                                                                                     

Prof. Dr. Matthias Petzoldt