Besinnung am Wochenende am 24. Juni 2017

  • 24.06.2017 , Johannistag
  • OKR i.R. Wilhelm Schlemmer

„Von der Freiheit eines Christenmenschen" Thema 1 : Knecht oder Herr? (1 Kor 9, 19)


An Luther kann sich in diesem Jahr keiner vorbeischleichen, auch wir in unseren sommer-lichen Andachten nicht. 1520 hat Martin Luther drei wichtige Schriften verfasst:
„An den christlichen Adel deutscher Nation",
„Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche" und
„Von der Freiheit eines Christenmenschen".

Diese dritte Freiheits-Schrift ist die wichtigste; ich denke, sie ist seine wichtigste Schrift überhaupt. Hier finden wir das Fundament der gesamten lutherischen Theologie. Darum machen wir in diesem Jahr diese Schrift zum Gesamtthema unserer Andachten zum Wo-chenende.

Vor diesen drei Grundsatztexten war damals schon einiges im Lande gelaufen: In seinem Turmzimmer in Wittenberg liest er Tag und Nacht die Bibel, und er entdeckt die Theologie des Apostels Paulus. Solche Sätze wie „Der Gerechte wird aus Glauben leben" (Rö.1,17.) und „Es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade..." (Rö.3,23f.). Luther schreibt: Vorher hasste ich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes", nach welchem Gott allein gerecht ist und die Sünder und Ungerechten, sein Gegenüber, straft. Gott stand mir gegenüber als harter Richter, ich war Angeklagter. Ich konnte diesen Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, quälte mich mein Gewissen sehr, ich wagte nicht zu hoffen, schreibt Luther.

Und dann fing Luther an, die Gerechtigkeit Gottes neu zu verstehen: Nämlich so, dass der gerechte Gott nicht seine Gerechtigkeit uns gegenüberstellt, sondern uns seine Gerech-tigkeit schenkt, damit ich annehmbar werde; also Gerechtigkeit als Gabe, die Gott selbst schafft und uns schenkt, eine Gabe Gottes, durch die ich lebe und nicht verurteilt werde. Eine unglaubliche Entdeckung, wir nennen sie sein Turmerlebnis.

Aber hat der in seiner Kammer isolierte Mönch das auch richtig verstanden? Wollte Pau-lus tatsächlich solche Thesen verbreiten? Das hieße schließlich: Gott handelte wie ein Lehrer, der die Zeugnisse nicht am Ende eines Schuljahres verteilt, sondern am Anfang eines Schuljahres, und zwar nur Einsen - vor allen Leistungen und Klassenarbeiten... Ist Gott wirklich wie so ein unerfahrener, praxisferner Idealist, oder ist er vielleicht doch der bessere Pädagoge? Wir müssen der Frage nüchtern nachgehen.

Zunächst folgte in Wittenberg der Thesenanschlag 1517, aber auch die Strafanzeige in Rom, und im gleichen Jahr wird das Ketzer-Verfahren gegen Luther eingeleitet. Dann kommt es zum Streitgespräch 1519 mit Johannes Eck auf der Pleißenburg hier in Leipzig, und es gibt viele weitere Ablass-Streitigkeiten. Luther wird widersprochen, und das ist zunächst verständlich. Noch eins ist ganz wichtig: In dieser Zeit wird der Buchdruck er-funden, und Luthers Schriften verbreiten sich wie ein Hochwasser im Land.

1520 also die drei Hauptschriften, und die Freiheits-Schrift als Antwort auf die Grundfra-ge: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Oder anders gefragt: Wie werde ich annehmbar vor Gott? Heute interessiert das keinen mehr, hörte ich im vergangenen Jahr von einer Kanzel. Ich habe dem Kollegen damals widersprochen. Ich glaube: Es ist auch heute die Grundfrage unseres Lebens und Alltags. Ich denke an Peter aus einer ehemaligen Konfir-mandengruppe. Er wurde mir schon vorher als ein besonderer „Sargnagel" angekündigt. In der Schule hatte er vom 1. Schuljahr an eine 5 in Betragen (DDR!). Ich wollte ihn mir aber erst einmal anschauen. Die erste Konfirmandenstunde begann damit, dass er sich unter einen der Tische setzte: „Ich sitze immer hier" war seine Begründung auf meine Frage. Natürlich blieb er dort nicht ruhig sitzen, sondern ließ seinen grenzenlosen Einfäl-len freien Raum. Nach diesen ersten Erfahrungen beschloss ich, mir das Elternhaus anzu-sehen. An diesem Wochenende hatte er gerade seinen 8. „Vater" bekommen, und dieser wollte den Jungen nicht in der Wohnung haben: er störte. So vergnügte sich der Junge auf der Straße, und wenn dort alles erkundet ist und sich Langerweile einstellt, muss er sich irgendwie Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen, möglichst ohne große Anstrengung. Die Phantasie ist meist grenzenlos. Wie kann man mit einem solchen Kon-firmanden fertig werden? Wichtig war mir: Er darf nicht zu meinem Gegner werden - das halten beide nicht lange aus. Man muss ihn zum Freund machen, damit er selbst sich nicht als Gegner sieht; und man muss ihm Anerkennung geben, damit der sich nicht als Schwächling empfindet, der natürlich als stark erscheinen will; und man muss seine Phantasien zu positiven Zielen lenken.

Die Frage anders formuliert: Was muss geschehen, dass er sich (trotz dieser Familienver-hältnisse) angenommen weiß? Der Junge versuchte ja nur, sich annehmbar, interessant zu machen, sich Geltung zu verschaffen - aber durch Blödsinn und Störungen. Die Frage steht überall: Was muss ich tun, um als Mensch von meiner Umwelt angenommen zu werden (positiv oder - wenn das nicht klappt bzw. zu anstrengend ist - negativ). Die Wer-bung sagt: Kleide dich so, wie wir es vorgeben, dann bist du im Trend; die Techniker sa-gen: Spiele mit einem Handy, dann kannst du mithalten; unter Christen heißt es: nur meine Art der Frömmigkeit ist richtig, in der Arbeitswelt: nur besondere Leistungen brin-gen dich voran, im Extremen: Terror macht dich groß und angesehen.

Luther stellte seine wichtigste Lebensfrage seinem Gott; wir stellen sie heute den Göttern unserer Zeit, „denn (sagt Luther im Großen Katechismus) woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott..." Luthers Grundfrage des Lebens und Glaubens wird immer ak-tuell sein. Denn alle unsere Denkstrukturen haben ihre Auswirkungen auf das gesamte Leben; oft als eine ansteckende Krankheit. Wie also werde ich frei, wie kann ich leben ohne einen dauernden Leistungsdruck? Was hilft mir zu einer ansteckenden Gesundheit?

Luther entdeckt zunächst: Gott lässt uns „Mensch" sein und nimmt uns als normalen Menschen an - wie wir sind, mit allen Schwächen und Stärken. Nach der Bibel sind wir in Gottes Augen eine gut gelungene Schöpfung, die uns die reiche Phantasie Gottes erfahren lässt. Gott lässt uns Mensch sein, das heißt aber auch: Gott lässt uns Sünder sein. Wir müssen nicht Halbgott, nicht Übermensch, nicht Vollkommener sein; wir dürfen Sünder sein, denn Gott hat eine übermenschliche Geduld mit uns! Kein Mensch ist nicht zugleich ein Sünder, einer, der zeitweilig ohne Gott lebt. Doch schon im AT (Jes.43) steht: „Fürchte dich nicht, denn ich (Gott) habe dich erlöst; ich habe dich (nicht bei deinen Werken, son-dern) bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" Und Jesus erzählt von dem Vater, der sich von seinem Sohn beleidigen lässt, und als der zur Besinnung kommt und zurückwill, läuft der Vater ihm entgegen und gibt ein Fest für ihn. So ist Gott! In seinem Namen schafft Jesus nicht die guten Werke ab, aber er schafft die Religion als Mittel zum Zweck ab! Also doch wie der Lehrer, der am Schuljahres-Anfang die Einsen verteilt. Man stelle sich vor, wie viel Druck von den Kindern verschwindet. Ein solches Schuljahr / Leben verläuft anders. Darum schwärmt Paulus von „der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes".

Luther und Generationen vor ihm hatten das sehr anders gehört: Ihr sollt gute Menschen sein, ihr müsst es auch, sonst drohen unsere Strafen; und ihr könnt euch gut machen, wenn ihr eurer Kirche Gutes tut. Den Rest klären wir dann mit Gott. Frömmigkeit als Mittel zum Zweck? Joachim Gauck (der alte Bundespräsident) sagt: Die Regel der Diktatoren zur Erzeugung von Untertanen lautet: "Beuge das Haupt, empfinde Angst, und es wird dir gut gehen." Das war das Grundprinzip der DDR. Dagegen Luther 1520: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan", und später: „Gute und fromme Werke machen keinen guten und frommen Mann..." Denn: Wir sind Gottes gutes Schöpfungswerk.

Luther hat entdeckt: Meine große Freiheit zum Leben als Mensch finde ich in meiner Bindung an Gott. Wenn ich weiß: ich bin geliebt, d.h. angenommen von meinem Schöpfer, dann sind die Grundfragen geklärt: mein Lebenssinn, mein Lebensziel, meine Sicherheit, mein Halt in schweren Zeiten, mein Lebensinhalt... Du bist ein guter Mensch, mach was draus, dann wirst du auch ein glücklicher. Darum schreibt Luther in derselben Schrift: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan." Nimmt er jetzt sein befreiendes Wort zurück? Nein! Gute Werke folgen notwendig aus dem Glauben, aber erzwungene Werke kommen nicht aus Glauben, sondern aus Angst.

Luther sagt das so: „Gute und fromme Werke machen keinen guten und frommen Mann, aber ein guter und frommer Mann tut gute und fromme Werke." Luther hat auch diese These von Paulus. In seinem 1. Brief an die Korinther schreibt er: „Obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich mich doch selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich mög-lichst viele gewinne" (1.Kor. 9,19.). Weil nur so Freiheit Spaß macht, wenn sie allen zum Nutzen wird, darum wächst echte Freiheit aus der Bindung: Bindung an Gott und an den Mitmenschen. Dieser Gedanke ist der Grundsatz einer Demokratie, sie hat in der Refor-mation Luthers ihre Wurzeln: Hier ist jedermann verantwortlich für jedermann, für das Ganze.
Diese Freiheit eines Christenmenschen verändert nicht unsere Welt, aber sie schafft Inseln neuen Miteinanderlebens im Alltag, ohne dass wir uns Illusionen über diese Welt und den Menschen machen müssen; denn Angst und Unsicherheiten verschwinden, nicht aber unsere Verantwortung. Wir sollen wissen, dass uns nichts von Gott trennen kann, nicht einmal der Tod - das ist ein Leben in Freiheit. Lasst uns dieser Freiheit unser Ver-trauen schenken.

OKR i.R. Wilhelm Schlemmer