Besinnung am Wochenende am 1. Juli 2017

  • 01.07.2017
  • Prof. Dr. Jürgen Ziemer

„Von der Freiheit eines Christenmenschen", §5

Nichts ohne Gottes Wort?

Wer in der religiös-kirchlichen Sprachwelt nicht zu Hause ist, wird vielleicht das Fragezeichen als den verständlichsten Teil des heutigen Themas ausgemacht haben.

Nichts ohne Gottes Wort!
Für Martin Luther war das die Antwort auf die Frage nach dem, was einen Christenmenschen ausmacht, genauer was ihn zu einem freien Menschen macht; denn das ist für ihn das Wesentliche. Darüber schreibt er für den Papst die kleine Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen", in der es heißt:
Die Seele hat kein anderes ding, weder im Himmel noch auf der Erde, worin sie lebt, fromm, frei und Christ ist, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes, von Christus gepredigt.
Was aber hat unsere Freiheit mit dem Wort zu tun?

Es geht um die wahre Freiheit, die von innen her kommt. Das wusste Luther und ermutigte die Menschen, sich frei machen zu machen von unnötigen Kirchengesetzen und ungerechter Herrschaft. Sie sollten sich trauen, ihren Glauben selbst zu verantworten und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dazu half das Wort Gottes, das unabhängig ist von Bischöfen und Fürsten und selbst dem Papst. Es ist das Wort Gottes, das wir uns nicht selbst sagen können, das an jeden von uns ergeht und das jedem Einzelnen, ob groß, ob klein, ob reich, ob arm. Oft stehen wir uns selbst im Wege, denken dass wir es allein schaffen müssten. Gottes Wort lockt uns von außen her aus unserem Gehäuse. Es ist das das Evangelium, das uns einen Weg weist, uns stärkt und tröstet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen sein. Ich will euch erquicken." (Mt 11, 28)

Luther lag unerhört viel an dem Wort Gottes, wie es aus den biblischen Texten zu uns spricht. Deshalb hat er sich so sehr dafür eingesetzt, dass wir es in unserer Sprache lesen können. Wir können es hören, jeden Sonntag, wenn wir es wollen: jeden Tag.
Das Wort Gottes macht uns zu freien Menschen! Luther war davon tief überzeugt, das war das wichtigste Ziel seiner reformatorischen Aktivität.

Ist es so? Macht uns Gottes Wort frei? Ist die Bibel ein emanzipatorisches Buch, auch heute in unserer modernen Zeit?
Es ist nicht einfach, darauf eine klare und vor allem ehrliche Antwort zu geben. Es gibt eben beides: Es gibt Christen, die durch die Begegnung mit dem Gotteswort in der Bibel zu einer neuen inneren Freiheit gefunden haben. Das hilft, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kurs zu halten.

Und es gibt andere, die mit dem biblischen Wort Grenzen aufrichten und Zäune bauen. Da wird das Wort in einem gesetzlichen, in einem fundamentalistischen Sinne verstanden: nicht als befreiende Botschaft, sondern als einengenden Katalog von Vorschriften, wie wir zu leben und zu denken haben. Und manchmal wir es auch missbraucht um anderen gegenüber Recht zu behalten.

Wir haben das auch in unserer Kirche in den letzten Jahren erlebt, etwa in den Diskussionen um Homosexualität, wo einzelne Texte in einer wortwörtlichen Bedeutung angewendet wurden, und es dann heißt: die Bibel verbietet es. Die Bibel verbietet nichts, was zum Leben und zur Liebe gehört. Es kommt eben darauf an, wie wir mit dem Gotteswort umgehen. Luther sagt an anderer Stelle sehr schön:
Es ist ein sehr zart Ding um Gottes Wort.
Ein „zartes" Ding, eine „zarte Rede", sagt er an anderer Stelle: Man darf das Wort nicht pressen, nicht sich seiner bemächtigen, es als Waffe gegen Andersdenkende gebrauchen. Es lebt und wirkt aus sich selbst heraus, bei den Menschen, die es hören können und wollen.

Oft gehen wir mit Gottes Wort wie mit menschlichen Worten um, von denen Rilke in einem Gedicht sagt:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort,
sie sprechen alles so deutlich aus
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus
Und hier ist das Ende und dort der Beginn.
....
sie wissen alles, was wird und war,
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar...

Ihr bringt mir alle Dinge um

Gottes Wort, sagt Luther, ist ein „zart Ding", es hat etwas mit Poesie zu tun, die Raum lässt, den Sinn des Wortes zu ertasten oder auch im Gespräch zu erschließen. So gibt es auch die Freiheit, das Wort in jeder Situation neu zu erschließen. So wirkt es befreiend.

Um es durch ein Beispiel zu erläutern: Im Johannesevangelium wird die Geschichte Hochzeit zu Kana erzählt. Jesus war dabei, seine Gegenwart bewirkte, dass der Wein nicht ausging (Joh 2). Man verkennt die Sprache des Gotteswortes, wenn man daraus eine Belehrung über Jesu Fähigkeiten als Kellermeister macht. Ob das Weinwunder sich so ereignet hat, ist heute nicht mehr nachprüfbar. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, wie mit dieser wunderbare Geschichte deutlich wird: Jesus ist mit den Menschen nicht nur in der Not, sondern auch in der Freude. Er ist es als Freund des Lebens. Wenn wir das Wort so als „zartes Ding" begreifen, dann bewahren wir seine bezaubernde und befreiende Kraft.

Nichts ohne Gottes Wort? Eine letzte Frage dürfen wir uns nicht ersparen. Warum spielt es in unserem Leben - anders als in der Reformationszeit - oft nur eine geringe Rolle? Hat es in unserer Zeit seine Leben erschließende und befreiende Dynamik verloren? Oder fehlen uns die Freude und der Eifer, es aufzunehmen? Das Wort Gottes entfaltet seine Kraft überhaupt erst, wenn wir es hören. Ja noch genauer gesagt: das biblische Wort wird erst Gottes Wort, wenn wir es hören und aufnehmen.
Fehlt vielen Menschen heute einfach der Hunger nach geistiger und geistlicher Nahrung? Vielleicht auch uns selbst? Dürstet es unsere Seele nach dem Wasser des Lebens? Sehnt sie sich nach Gottes Wort?
Ich kann und will diese Fragen nicht beantworten. Es gibt geschichtliche Stunden, in denen der Hunger größer ist, und solche wo er weniger gespürt wird. Viele haben es in Not und Umbruchzeiten persönlich erlebt.
Umso wichtiger ist, dass der Zugang zu Gottes Wort offen ist. Das Wort Gottes soll, wie Luther öfter sagte, bei uns „im Schwange" sein.
Darum ist der Ton vieler Lieder aus der Reformationszeit. „Erhalt uns Herr, bei deinem Wort!"
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Mt 4, 4) - Luther zitiert dieses Jesuswort ausdrücklich.
Gerade in dürren Zeiten ist es wichtig, dass unsere Seele weiß, wo es mehr gibt als Brot und wovon wir leben können.
Darum: Nichts ohne Gottes Wort! Amen


Prof. Dr. Jürgen Ziemer