Besinnung am Wochenende

  • 30.06.2018
  • Prof. Dr. Jürgen Ziemer

„Impulse zum Leben"  Aus Gnade leben?

Aus Gnade seid ihr gerettet durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.
Epheser 2, 8 (WS )

Liebe Gemeinde!

„Aus Gnade leben" - so lautet der erste Impuls, den unsere Andachtsreihe in diesem Sommer weiter geben möchte.
Der Wochenspruch sagt es noch pointierter: aus Gnade „gerettet"! Was für ein starkes, aber auch irritierendes Wort!

Vor meinen inneren Augen taucht ein Bild aus den Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 auf. Mitten unter den Demonstranten für mehr Freiheit und Demokratie in unserem Land eine ältere Frau mit einem selbstgebastelten „Jesus rettet!" Aufrecht und würdevoll schritt sie mit ihrer Botschaft voran - von den meisten unbeachtet, von manchen bewundert, von anderen belächelt.

Gerettet werden: wir denken da an Hilfe in auswegloser Situation: bei schwerem Feuer, vor dem Ertrinken auf hoher See, in äußerster Not, vielleicht auch an inneren Gefährdungen, etwa durch Sucht. Da ist „Rettung" das Gebot der Stunde. Noch heute tragen Krankenhäuser den Namen „Soteria", griechisch für „Rettung"!

Für die normale Lebenshaltung jedoch, auch für eine christliche, erscheint mir die Rettungsmetapher sehr scharf. Sie ist vielleicht für den Menschen des Altertums verständlich, der in großer Angst vor der ewigen Verdammnis lebte. Radikale Sekten denken auch heute gern in den Kategorien von Böse und Gut, von Verloren-sein und Gerettet-werden, Apokalypse und Paradies.

Aber wir - müssen, wollen wir „gerettet" werden?
Nur: Warum geht mir die Frau mit ihrem „Jesus rettet" nicht aus dem Sinn. Ist da nicht etwas, das unser Bibelwort anspricht?!

Aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es!

Es geht nicht um Rettung vor der Verdammnis, der Hölle o.ä. Es geht eher um Befreiung von unseren eigenen permanenten Selbstrettungsversuchen: „aus Gnade" seid ihr gerettet... Bei vielen von uns trifft das einen Kern unserer inneren Einstellung.

Es gehört zur Lebensphilosophie des modernen Menschen, das Gegenteil zu versuchen, nämlich statt „aus Gnade" immer und immer wieder „aus uns selbst", wie es im Wochenspruch heißt. Und dazu werden wir ja ständig herausgefordert.

Wo wir uns auch hinwenden: überall Hinweise und Ermahnungen, Ratschläge
und Empfehlungen für das richtige, das gute Leben. Rette dich selbst!
Ändere Dein Leben! Es gibt so viele Aufforderungen zur gründlichen Selbstverbesserung! Man kann Ihnen nicht entkommen:
- Sie betreffen den Körper: bewege dich, atme richtig, treibe Sport,
- unsere Ernährung: iss vernünftig und maßvoll, und möglichst ökofair,
- unsere gesellschaftliche Verantwortung: engagiere dich, setz dich ein
- unsere Mitmenschen: sei achtsam, sei barmherzig,
- unser Christsein: sei ein Vorbild des Glaubens; sei spirituell!
Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, stundenlang.

Das erste was mir dazu einfällt: Das ist alles richtig, es gibt nichts dagegen zu sagen, und es muss auch immer wieder gesagt.
Aber, und das ist das Zweite: Es kann echauffierend und trostlos werden, immer von solchen „richtigen" Imperativen getrieben zu sein. Sie werden uns vielleicht von andern entgegen gehalten, aber sehr oft kommen sie auch von uns selbst?

Wie kommen wir aus solchem Getrieben-sein, solcher Unruhe heraus?

Eine Idee: Sich zurücknehmen
Von Gottfried Benn, einem der wichtigsten Dichter der Moderne, gibt es ein Gedicht mit der Überschrift: „Du musst dir alles geben".
Benn verarbeitet in poetischer Weise darin die Erfahrung, für alles im eigenen Leben verantwortlich zu sein. Benn war Pfarrerssohn, aber vom Glauben zunehmend entfernt. Mit dem Druck, sich alles selbst geben zu müssen wird er auf seine Weise fertig:

Du musst dir alles geben
Götter geben dir nicht,
gib dir das leise Verschweben
unter Rosen und Licht...

Was der Dichter meint, ist im Detail schwer zu entschlüsseln. Entscheidend ist: der Verzicht auf das beständige Geben-müssen, der Rückzug, das Verlassen, das Leerwerden, ein „leises Verschweben". Das ist nah an dem, was wir vor allem aus östlicher Spiritualität lernen: Rückzug ins Schweigen, in die Stille, die Meditation. Es ist das Ende permanenter Selbstanforderung. Daraus können Kräfte erwachsen. Das es ist sehr hilfreich und ein Stück des Wegs zu dem, was unser Wort aus dem Epheserbrief meint.

Zweite Idee: sich umschauen: Wovon lebe ich eigentlich?
„Aus Gnade leben" bedeutet positiv: nicht alles aus sich selber machen müssen. Es ändert die Blickrichtung: ich werde aufmerksam, was andere Menschen für mich tun und wovon ich lebe: von ihren Ideen, von ihrer Arbeit, von ihrer Vertrauenswürdigkeit, von ihrer Liebe, manchmal auch von ihrem Opfer. Was wäre ich ohne das, was ich empfangen habe von anderen. Das ist eine Lebensperspektive, die nicht nur privat wichtig ist. Sie kann eine Gesellschaft verändern. Wir müssen von dem Wahn loskommen, dass uns dauernd etwas genommen wird. Und es sind oft nicht die Reichen und die Starken, von denen ich etwas empfange. Wenn ich im Süd-Café mit einem „Migranten" spreche, dann höre ich nicht nur, dann nehme ich etwas mit, das mich die Welt und unser Leben anders sehen lehrt.

Und schließlich ein dritte Idee, wie ich aus den Selbstrettungsversuchen herauskomme: Sich dem öffnen, was Gott gibt.
Und was wäre ich ohne „Gottes Geschenk", das Geschenk des Lebens, das Geschenk der Gnade: ich bin, ich darf sein, ich darf hoffen. Gott ist da, es gibt ihn noch, für mich, Das ist noch einmal etwas anderes, es betrifft mich als Person - im Glück wie im Unglück, in den Hochzeiten und in den Krisen meines Lebens. Aus Gnade leben: das wird mir bewusst im Schweigen und im Hören, in den Momenten, wo ich mich für Gott öffne: in der Stille, im Gebet, im Gottesdienst der Gemeinde, im Gespräch des Vertrauens, vielleicht auch im Hören einer Musik, die meine Seele erreicht.

„Gott hört nie auf zu geben", sagt die Mystikerin Teresa von Avila (gest. 1582) und fügt hinzu: „Lasst uns nie aufhören zu empfangen."
Das ist ein Impuls zum Leben - egal ob wir es „Rettung" nennen oder nicht.

Prof. Dr. Jürgen Ziemer