Besinnung am Wochenende

  • 01.09.2018
  • Oberkirchenrat i. R. Wilhelm Schlemmer

Liebe Gemeinde,wir waren in der Eifel unterwegs, haben die herrliche Landschaft mit den Bergen und Wäldern und den vielen Burgen genossen. An einem Wochentag waren wir im Kloster Maria Laach: eine riesige, beeindruckende Anlage, im Mittelpunkt die uralte romanische Abteikirche - im wesentlichen aus dem 13. Jahrhundert.

Wir saßen ziemlich lange unten in der Krypta, dem ältesten Teil der Kirche - vor über 900 Jahren gebaut. Man steigt auf einer schmalen, dunklen Treppe in einen Raum herab, der unter dem großen Hauptaltar liegt. Der Raum ist nicht sehr groß, auch ziemlich dunkel. Viele Säulen mit runden Bögen bestimmen den Raum. Gegenüber den Treppen ein kleiner Altar mit Kreuz und Kerzen... Hier in der Krypta sind nur wenige Menschen. Keiner sagt etwas. Die meisten bleiben kurz stehen, ehe sie wieder hinaufgehen.

Wir haben uns ganz hinten auf die Stühle in der letzten Reihe gesetzt und genießen den Raum und die Ruhe. Die Leute kommen und gehen - sehr ruhig alles. Dann kommt eine Frau in den mittleren Jahren mit einem Jungen, vielleicht ihr Sohn, 10 bis 11 wird er gewesen sein. Sie kommen die Treppe herunter, bleiben kurz stehen, dann setzt sich die Mutter und deutet dem Jungen, das gleiche zu tun. Auch er setzt sich brav, schaut nach vorn, und dann sagt er für alle vernehmbar: „So, und was machen wir jetzt hier?"
Wahrscheinlich war dieser Junge noch nie in einer Kirche oder nur äußerst selten. Aber er hat etwas sehr Elementares ausgesprochen, was viele andere auch denken, aber nicht laut: „So, und was machen wir jetzt hier?" Wir müssen doch jetzt irgendetwas tun! Oder darf man in einem Raum (einer Kirche oder einem Profanraum) auch einfach mal nichts tun?

Dazu lese ich einen Satz aus dem Alten Testament, das ist der Wochenspruch für die kommende Woche. Im Psalm 103 heißt es:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:..."

Mit Sicherheit haben jetzt einige gedacht: Nun sagt er, ihr sollt beten. Nein! Das sage ich nicht, und das steht auch so nicht da. Dem Jungen würde ich eher sagen: Du darfst jetzt mal ruhig dasitzen, nichts tun, nachdenken, schweigen und mal sehen, was passiert.

Aktiv schweigen! Aber hier sagt doch einer sehr deutlich: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht..." Und wahrscheinlich gehen jetzt bei einigen unter uns erst mal die Alarmglocken aus der Kindheit an! Diese ewigen Ermahnungen: Vergiss nicht, vor dem Essen die Hände zu waschen; vergiss nicht, woher du kommst und benimm dich ordentlich; vergiss nicht, die Hausaufgaben zu machen...

Das alles wird hinfällig, wenn wir uns den Text genau ansehen, dieses Selbstgespräch! Ja, der Text ist ein Selbstgespräch! Hier sagt einer zu sich selbst, was er nicht vergessen will, und er tut das vor Gottes Augen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht..."

War ihm ein schönes Erlebnis wieder eingefallen? Vielleicht entsann er sich, dass es Erfahrungen gab, die er in bestimmten Situationen einfach wissen und darum immer parat haben will.

Ein Kirchen-Raum ist fantastisch dazu geeignet, einmal dazusitzen, ganz still zu werden - die Gedanken wandern zu lassen, und dann fallen plötzlich unübliche Gedanken über einen her: Was hast du alles gemacht: heute, gestern, früher mal... Wer bist du eigentlich? Hast du dich selbst eigentlich gern? Wie hast du dich verändert? Was hat eigentlich dazu beigetragen? Was ist alles passiert in deinem Leben, wozu du selbst gar nichts getan hast?! Gutes und Böses. Wo kommst Du her? Hat dein Leben eigentlich ein Ziel? Wer braucht dich und wer will dich eigentlich haben..." - Fragen über Fragen - alle über sich selbst.

Diese Gedanken kommen einem nicht im Bus, nicht beim Autofahren oder beim Rasenmähen. So ein Raum verhilft mir zu nicht alltäglichen Fragen, und der Raum verhilft auch zu Antworten. Ich sehe vorne das Kreuz mit Jesus dran: Ich habe also nicht als einziger zu leiden, Schmerzen auszuhalten. Er am Kreuz hatte dieses Leiden auch satt. Und er hat mehr als ich gelitten. Und er ist in dem Leiden nicht untergegangen: denn er hatten einen, der hielt ihn! Habe ich den eigentlich auch? Vielleicht habe ich mich lange nicht um ihn gekümmert. Der ganze Tag läuft ab ohne Gott. Vielleicht liefe manches anders, wenn mich irgendetwas an ihn erinnerte?! Ein Kirchengebäude kann besonders gut an ihn erinnern, weil andere Räume in der Regel zu laut sind. Die aktive Stille im Raum hilft mir, mich selbst zu sehen, wie und wer ich tatsächlich bin.

Unser Bibelvers geht eigentlich so weiter: „der dir alle deine Sünden vergibt..." Also jetzt werden wir nicht den ganzen Quatsch nachsagen, was in DDR-Zeiten in atheistischer Propaganda gesagt wurde: Sonntags gehen die Christen in die Kirche, und da lassen sie sich ihre ganzen Schandtaten vergeben. Ab Montag machen sie alles weiter wie zuvor. Sowas ist hier nicht gemeint! Die sog. Schandtaten sind nicht die Sünden, und wenn ich einem in sein Auto eine Beule gefahren habe, muss ich das selbst mit ihm klären und auslöffeln. Das alles sind die Folgen von Sünde. Denn Sünde ist, wenn die Kinder sagen: Ja, die Eltern sind fort, wir haben sturmfreie Bude. Die Folgen davon müssen sie selbst ausbaden und enden meist in Tränen. Sünden - „sund" - sind die Gräben, die ich schaffe oder entstehen lasse zwischen mir und Gott.

Und nun: „Der dir alle deine Sünden vergibt" und nicht sagt: Du hast mich jahrelang links liegen gelassen, nun will ich nicht mehr von dir wissen, sondern der dich heimkehren lässt, dich neu anfangen lässt - immer wieder, täglich... Vergiss nicht, dass Gott nicht dein Versagen oder deine Fehlleistungen im Auge behält, sondern dich. Dieses Wissen kann mich prägen: mein Denken, mein Handeln, meine Erwartungen. Alles an mir kann sich durch solche Prägung verändern. Das ist wie eine Tankstelle, die das Leben verändert, die mir Hoffnung macht, dass das Leben doch nicht umsonst ist, auch wenn es so viel Leerlauf gibt. So hilft mir ein Selbstgespräch vor Gott, mit meiner Vergangenheit redlich umzugehen.

Soll man sich tatsächlich so intensiv mit der Vergangenheit beschäftigen? Sind Gegenwart und Zukunft nicht wichtiger für das Gelingen des Alltages und zudem wesentlich interessanter? Wir haben heute Zukunftsforscher, die uns helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sind sie nicht wichtiger als die Geschichtsschreiber? Heute wird das vielfach so gesehen. Trotzdem gehört die Vergangenheit zu den Grundlagen jedes einzelnen Lebens. Warum? Weil die Vergangenheit uns geprägt hat, weil alle Erlebnisse unser Denken und Hoffen und Empfinden verändern. Und alle Erfahrungen + Erlebnisse liegen nur in der Vergangenheit. Wie viele Schwellen und Blockaden in uns sind nur Folgen von Kindheitserlebnissen: Folgen einer ungewollten Begegnung mit einem Hund oder Folgen von verbrannten Fingern. Keiner von uns ist noch so, wie vor 30 Jahren. Ich meine nicht die Gesichtsfalten, sondern die Veränderungen im Inneren. Auch die DDR-Zeit hat uns geprägt. Wir empfinden vieles anders als Westdeutsche.

Also die Vergangenheit ist wichtig, weil alle Erfahrungen und Prägungen grundsätzlich nur in der Vergangenheit lie-gen. Wir können auf die Lebenserfahrungen von gestern nicht verzichten, wir brauchen sie dringend für die Entscheidungen von heute. Und speziell: „Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat." Das heißt nicht: alles rosarot zu malen, sondern ehrlich zu bleiben! Liebe Gemeinde, nichts ist so unwahr wie die Behauptung, dass einem nichts geschenkt wird. Die meisten Geschenke liegen nur verschüttet unter Wünschen, Plänen oder Aktivitäten - wie in einem unaufgeräumten Schrankfach. Verschüttete Dinge helfen nicht.

Also vergiss nicht, dass du dich nicht selbst bewahrt hast und dass du nicht selbst alle Türen geöffnet hast, als die Lage so verworren war und dein Weg dann trotzdem weiterging. Es ist wichtig zu wissen, wohin man gehört. Dann nämlich lassen sich die Dinge des Lebens sachgemäßer einordnen.
„Und was machen wir jetzt hier?" hatte der Junge gefragt. Meine Antwort: Gönnt euch immer mal einen Augenblick in einer Kirche oder in sonstiger Stille, um aktiv still zu werden, als Tankstelle oder zum Verarbeiten des Vergangenen!

Zum Schluss noch eine Klarstellung. Ist ein Selbstgespräch oder auch mein Nachdenken, ist Schweigen eigentlich ein Gebet? In derselben Kirche in Maria Laach, oben im großen Kirchenschiff erforscht ein Fünfjähriger ohne die Begleitung der Eltern den Bau. Dann bleibt er vor einer alten Dame stehen. Sie sitzt ganz still auf der 1. Bankreihe, nichts bewegt sich; ihre Augen sind offen, dem Altar zugewandt. „Was machst du?" fragt der Fünfjährige. „Ich bete", war die Antwort. „Stimmt nicht", sagt der Junge, „du sagst nichts, dein Mund ist ganz still..." Darauf die Dame: „Er sieht mich, das genügt!"

Liebe Gemeinde: Ihr habt überall einen Ort, an dem diese Erfahrung gemacht werden kann: „Er sieht mich!" Denkt daran in der neuen Woche! Diese Erfahrung verändert eigentlich alles! Amen


Gebet:

Ewiger Gott, weil du uns mit den Augen des Vaters an-schaust und nicht mit den Augen des gerechten Richters, darum geht es uns gut. Wir haben eine Woche miteinander verbracht und danken dir dafür. Lass uns bei allen unseren Aktivitäten nicht vergessen, was wir Stunde um Stunde aus deiner Hand empfangen, damit uns deine Güte fröhlich und dankbar macht. Hilf uns, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und gib uns die nötige Kraft für unsere Aufgaben. Bewahre uns alle jetzt auf unseren Wegen nachhause. Lass jeden einzelnen geborgen sein in deinem Schutz.

VATER UNSER IM HIMMEL...