Ansprache zur Weihnachtsmotette 13.30 Uhr
- 24.12.2024 , Heiliger Abend
- Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle
Liebe Gemeinde,
Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber die erste Fassung dieser Ansprache für den Heiligen Abend entstand bereits im August dieses Jahres. Es war mollig warm draußen, T-Shirt- und Badewetter, weit und breit kein Stollen oder Schwibbogen in Sicht. Es war so ein Tag, wo das Gehirn nicht viel tut. Dann schaue ich ganz gern mal bei Instagram durch, was es alles gibt. Und wie es der Algorithmus wollte, war bei den Videoclips auch eines von einem jungen Mann namens Patrick Keller dabei, der seit April dieses Jahres auf einer Weltreise zu Fuß unterwegs ist. 35 Jahre ist er alt, stammt aus Oldenburg, hat so einige Jobs hinter sich, aber so richtig angekommen ist er bislang nirgends.
Man fragt sich natürlich, was jemanden auf die Idee bringt, so etwas zu tun. Und er ist nicht er Einzige. Es gibt einige, die derzeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Weltreise sind. Sind das die neuen Aussteiger? Sind das gescheiterte Existenzen? Oder braucht’s das, wenn man in der Welt der sozialen Netzwerke ein bisschen Aufmerksamkeit erhaschen will? Über hunderttausend Follower hat Keller schon. Zehn Jahre will er unterwegs sein.
Eines klingt immer wieder durch, wenn man diese modernen Pilger reden hört: Sie wollen wissen, ob die Welt noch anders sein kann, als man sie tagtäglich erlebt. Hat die Welt mehr zu bieten als den schmalen Ausschnitt, den man das eigene Leben nennt? Irgendwann wird das Leben fest. Irgendwann hat man sich seine Weltsicht zurechtgelegt, seine Meinungen über alles Mögliche gebildet. Irgendwann weiß man auch, wie man ins Programm passt und was man tun muss, damit das so bleibt.
Aber ist das alles? Reicht das?
Den Weltwanderern offenbar nicht. Es geht darum, die Welt einmal nicht entlang ausgetrampelter Wege zu erkunden. Es geht darum, Menschen vorbehaltlos, ohne Absichten und Hintergedanken zu begegnen. Und es geht darum, mit sich selbst zurecht zu kommen – ohne Konsum, ohne soziale Netzwerke – und zu erfahren, was Körper und Geist wirklich brauchen und was Zivilisationsfett ist. Und schließlich geht es um Entdeckerfreunde und die Neugier, wo man ankommt, wenn man jeden Tag einfach einen Fuß vor den anderen setzt.
Beim darüber Nachdenken wurde mir klar, dass das doch eigentlich das Thema von Weihnachten ist. Menschen machen sich auf, lassen sich herauslocken, ohne schon zu wissen, was sie erwartet. Manchmal muss man ja erst vom Weg abkommen, um das zu finden, was einen bereichert und heilt.
Da wird von Hirten erzählt, die sich mitten in der Nacht aufmachen, weil sie Engel hören und neugierig werden, was es da wohl zu sehen gibt. Da sind die Weisen aus dem Morgenland, die auf der Suche sind nach dem Heiland der Welt und die einem Stern folgen, um diesen Heiland zu finden. Und da ist schließlich ein junges Paar, Maria und Josef, unterwegs von Nazareth nach Betlehem – das sind rund 150 Kilometer. Keine Weltreise, aber trotzdem ein beschwerlicher Weg. Und die beiden wissen wohl am wenigsten, was ihnen da unterwegs in den Schoß fallen und wie das ihr aus der Bahn werfen wird.
Die Weihnachtsgeschichte ist eine Wandergeschichte, eine Geschichte von Aufbrüchen, weil die Welt, wie man sie kannte noch nicht reichte, noch nicht alles erklärte, weil es noch etwas anderes brauchte. Und es ist eine Geschichte von kleinen Leuten, an denen die Welt normalerweise vorbeigegangen wäre. Ein Schreinerehepaar, Hirten, fremdländische Sterndeuter – das waren nicht die Schönen und Reichen oder die „Influencer“, für die man sich interessiert hat. Und doch wird heute gerade von diesen Menschen erzählt. Es sind heute ungefähr 2,5 Milliarden Christinnen und Christen rund um den Erdball, die von diesen kleinen Leuten hören.
Aber warum ist diese Geschichte von Menschen, die sich aufmachen, heute noch interessant? Ich denke, liebe Gemeinde, weil sich auch heute und hier viele Menschen fragen, ob sie – ich sage es mal so salopp – mit ihrem Leben überhaupt im richtigen Film sitzen. Ich erlebe das in Seelsorgegesprächen und ich erlebe es bei meinen Studierenden an der Universität. Da ist das Gefühl von Enge und Machtlosigkeit. Seit Jahren scheint sich unsere Gesellschaft um sich selbst zu drehen und nicht weiterzukommen. Viel Fischen im Trüben und wenig Lichtblicke.
Und auch die Welt drumherum stellt sich wenig hoffnungsvoll dar, das ist sattsam bekannt. Neulich gab es in der F.A.Z einen Artikel darüber, ob es in Deutschland genügend Schutzräume gibt und was es kosten würde, den häuslichen Keller in einen Bunker umzurüsten, der auch vor nuklearen Attacken schützt. Ich habe mich gefragt, ob das ein Scherz sein sollte oder wirklich ernst gemeint war. Wohl Letzteres! Als jemand, der noch tief im Kalten Krieg geboren wurde, erinnert mich das schon sehr an Zeiten, von denen man dachte, dass sie nie wieder zurückkommen würden. Aber anscheinend sind wir wieder an einem ähnlichen Punkt angelangt.
Da kommt Weihnachten ins Spiel. Die Zeiten waren nicht besser damals. Um die Krippe herum gab es Imperatoren, die sich am liebsten die ganze Welt einverleibt hätten – wie der Kaiser Augustus, oder ein König Herodes, der keine Skrupel hatte, seine halbe Familie über die Klinge springen zu lassen, wenn ihm das vorteilhaft erschien. Ich denke schon, dass die Menschen, die sich im Jahr „Null“, am allerersten Weihnachten zur Krippe aufmachten, die Frage gestellt haben, die auch Menschen heute bewegt: „War’s das schon?“ „Ist das, was wir sehen und erleben, wirklich alles?“ Und was sie gefunden haben, hat ihr Leben bleibend – heute sagen wir gerne: „nachhaltig“ – verändert.
Am ersten Weihnachten haben sich Menschen aufgemacht und sich dabei auf, nennen wir es: heilsame Abwege führen lassen –
Wege, die sie sonst nicht gegangen wären,
Wege, von denen sie vielleicht gar nicht gewusst hätten, dass es sie gibt.
Wenn uns das doch auch gelänge! Auf heilsame Abwege geraten, heißt gegen die eigenen Meinungen und Vorteile anlaufen,
heißt, Menschen neu begegnen, die man eigentlich schon abgeschrieben hatte,
heißt, dorthin gehen, wo man meinte, nicht hinzugehören,
heißt das Risiko eingehen, etwas zu finden, das man nicht gesucht hatte,
heißt, sich nicht von der Untergangsstimmung unserer Tage mitreißen lassen, sondern umdrehen und die Freude von Weihnachten hinaustragen.
Dazu muss man nicht um die ganze Welt laufen. Weihnachtliche Freude und Hoffnung breiten sich aus, wenn man einfach einen Fuß vor den anderen setzt.
Es sind solche heilsamen Abwege, die zur Krippe führen – damals wie heute. Und dann erlebt man,
dass die eigenen Ängste nicht das Ende der Welt sind,
dass die Zeiten noch so miserabel sein können, ohne einem die Freude am Dasein zu nehmen.
Weihnachten nährt und stärkt einen Glauben, der die Welt so entdeckt, wie sie werden kann und werden soll; einen Glaube, der mit der Neugier und dem Verlangen danach beginnt, was der Ruf der Engel verheißt: „Ehre sei Gott in der Höhe – und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“.
Patrick Keller – das sollte ich noch nachtragen – ist derzeit in der Türkei unterwegs. Über 4000 Kilometer hat er geschafft. Rund 36 000 Kilometer liegen noch vor ihm. Ob er ankommen wird? Vielleicht weiß er das selbst nicht. Aber er ist sich gewiss, dass das sein Ding ist und dass er abseits von allem auf die richtigen Abwege geraten ist. Und das hat etwas sehr Weihnachtliches.
Amen.