Ansprache zur Orgelvesper
- 16.02.2024
- Pfarrer Martin Hundertmark
Ansprache zur Orgelvesper am 16. Februar 2024, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr
Liebe Motettengemeinde,
Burgen wurden auf Felsen gebaut mit möglichst nur einem Zugang. So sind sie leicht zu verteidigen. Im Ernstfall konnten sich Menschen eines ganzen Ortes hinter die Burgmauern mit ihrer Zugbrücke zurückziehen, um dort Schutz zu bekommen. Im Psalm 31, den wir eben hörten und nachher auch als vertonten Choral miteinander singen werden, malt uns der Psalmbeter ein Bild von Gott. Gott möge wie ein starker Fels sein und wie eine persönliche Burg.
Dahinter stehen Feinderfahrungen, Intrigen, Lügen, Verfolgung – Fallstricke im Alltag, die heimlich gestellt wurden, damit sich der Gerechte darin verheddert.
Wir sind heute Abend als Motettengemeinde diesbezüglich mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz unterwegs. Mancher wird sich in den Worten des Psalmbeters wiederfinden. Eine andere hört vielleicht skeptisch, weil die Bilder nicht sofort ansprechen.
Aber, so denke ich, eine Erfahrung teilen wir alle miteinander: Es gibt Zeiten, da ist die Sehnsucht nach einem Zufluchtsort groß – das Fleckchen Natur in der unmittelbaren Umgebung, das abgeschlossene Zimmer des Teenagers, der Lieblingsurlaubsort, der Stammplatz im Konzerthaus, die vertraute Ecke im Café oder eben der Platz hier am Freitagabend in der Thomaskirche. Wir brauchen hin und wieder solche Zufluchtsorte. Sie lassen uns alles vergessen, was beschwerlich ist. In ihnen werden wir abgeschirmt und geschützt vor den Kräften, die gegen unsere Kraft anzurennen versuchen. Häufig werden die Zufluchtsorte sogar zur Kraftquelle für die Tage, die vor uns liegen.
Wo eigene Möglichkeiten an ihre Grenze kommen, begegnet Gott dem sich ihm Zuwendenden trostvoll und mit Stärke. Das gibt mir als Mensch die Chance, schwach sein zu dürfen.
Oftmals sind unsere eigenen Blickwinkel eingeengt. Wir sehen nicht alles, was uns eröffnet ist. Wir scheuen uns, Realitäten wahrzunehmen. Gelegentlich ist auch der gesenkte Blick nach unten dafür verantwortlich, dass sich der Sichtraum um uns herum doch sehr arg einschränkt.
Ein wunderbarer Versteil aus Psalm 31 beschreibt eine ganz andere Erfahrung:
Du stellst meine Füße auf weiten Raum
Das bedeutet doch: Gott hebt mich empor. Er gibt mir wieder festen Grund unter die Füße, mehr noch; er stellt sich auf weiten Raum, weil die Zukunft, die er für uns bereithält, eben von jener Weite geprägt ist. Nichts Einengendes, keine gedanklichen Grenzen, kein „Es ist Unmöglich“ auch kein „das geht nicht, weil es noch nie ging“. Vielmehr: Der feste Untergrund, damit die Weite des Raumes von Gottes Beistand und Gegenwart auch vollumfänglich wahrgenommen werden kann.
Wohltuend ist solches Handeln Gottes. Es darf glücklich schätzen, wer Gott so in seinem Leben erfahren darf.
Voller inspirierender Verse ist Psalm 31, liebe Motettengemeinde. Es geht weiter mit einem neuen Bild für unsere Beziehung zu Gott.
Meine Zeit steht in deinen Händen
Auf der einen Seite steht „meine Zeit“ auf der anderen Seite steht „in deinen Händen“. Die zwei Pole können unterschiedlicher nicht sein. Wir erliegen sehr oft der Versuchung, Herr oder Frau über unsere Zeit sein zu wollen und vergessen dabei allzu häufig, dass Zeit immer ein Geschenk ist. Niemand weiß, wie viel Zeit verbleibt. Niemand kennt das Ende seiner Lebenszeit im Voraus. Und trotzdem tun wir so, richten manchmal sogar alles danach aus, als ob wir bestimmen könnten, wie viel Zeit uns bleibt. Unabhängig davon gilt es, Lebenszeit sinnvoll und erfüllt zu gestalten. Aber darauf will der Psalmbeter gar nicht vorrangig hinaus.
Denn er setzt „meiner Zeit“ die Hände Gottes entgegen, um somit deutlich zu machen:
Du Menschenkind bist durch Gott in einer ganz anderen Zeit geborgen.
Du Menschenkind wirst niemals ins Bodenlose fallen, weil Gottes Hände auch unter der größten Leiderfahrung haltend und tröstend sind.
Sie fangen dich auf, wenn deine Zeit durcheinander gerät.
Sie schützen dich vor dem Absturz ins beziehungslose Nichts.
Liebe Motettengemeinde,
unsere Zeit ist geprägt vom Ausspruch „ich habe keine Zeit“. Wie oft sagen wir diesen Satz während des hektischen Rennens durch den Alltag?
Richtigerweise müsste er doch heißen: „Ich nehme mir keine Zeit“, weil andere Dinge wichtiger sind.
Mit der Verankerung der eigenen Lebenszeit in Gottes Händen werden wir eingeladen, hin- und wieder ganz selbstkritisch auf unsere Zeitprioritäten zu schauen.
Wofür nehme ich mir Zeit? Was ist mir wichtig? Welche Menschen sind mir wichtig? Ist mir Gott noch wichtig?
Eben dieser bietet uns immer wieder aufs Neue an, ihn als Zufluchtsort zu begreifen. Ansprechbar, wenn niemand mehr reden will oder kann, hat Gott immer Zeit für uns. Das ist eine so tief tröstliche Zusage.
Deshalb vertraut der Psalmbeter Gott auch sein Leid an, klagt ihm seinen misslichen Alltag und bitte um Gottes Güte, die viel umfänglicher ist als unser menschliches Gerechtigkeitsempfinden.