Ansprache über Jesaja 9,1-6 Christvesper an Heiligabend 18.00 Uhr

  • 24.12.2024 , Heiliger Abend
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

PDF zur Ansprache HIER

Das Volk, das durchs Finstere wandert,
sichtet großes Licht;
die im Schattenland siedeln,
Licht strahlt auf über ihnen.

Du breitest Jubel aus,
lässt große Freude wachsen.
Sie freuen sich vor dir 
wie in der Erntefreude,
wie sie jubeln beim Beuteverteilen.
Denn sein lastendes Joch,
den Stock seiner Schulter,
den Knüppel seines Treibers
zerbrichst du wie am Midianstag.
Denn jeder Soldatenstiefel,
der mit Getöse einher stampft,
und jeder Mantel,
der in Blut gewälzt ist,
muss ins Feuer hinein,
ein Fraß der Flamme.

Denn ein Kind ist uns geboren,
ein Sohn ist uns geschenkt.
Auf seiner Schulter kommt die Herrschaft,
und er erhält die Namen:
der-Wunder-plant, Kraftvoller-Gott,
Vater-der-Zukunft, Friedensherrscher.
Weit reicht die Herrschaft
und ohne Ende ist der Friede
auf Davids Thron und in seinem Reich,
da er es begründet
und stützt auf Recht und Treue
von jetzt an auf immer.

Jesaja 9,1-6 - Übersetzung nach Hans Walter Wolff

An Weihnachten stoßen zwei Welten aufeinander:
•    die Welt, so wie sie ist, mit all ihren großen und kleinen Katastrophen, voll von Blut und Tränen, Folge der Soldatenstiefel, die mit Getöse einher stampfen, und Folge der Knüppel derer, die die Menschen schinden und niedermachen.
•    Und dann die andere Welt: das Kind im Stall, der tiefe Frieden im Hinterhof, Hirten, Weise und Tiere vereint um die Krippe - die in sich versöhnte Schöpfung.
Wahrscheinlich kommen deswegen über die Weihnachtsfeiertage immer noch so viele Menschen in die Kirchen, weil die Sehnsucht nach dieser auf den ersten Blick so anderen, heilen Welt ebenso tief sitzt wie die Abscheu und Angst vor der zerbrechlichen, kriegerischen, alten Welt. Es ist die Sehnsucht nach haltbarem Frieden, nach gerechten Lebensverhältnissen, nach Gesundheit, nach Heil - eben nach dem Heiland, dem glaubwürdigen, selbstlosen Erlöser.

Beide Welten sind Bestandteil unserer Wirklichkeit - auch jetzt, wo wir bei wunderbarer Musik für eine kurze Zeit noch einmal eingetaucht sind in den weihnachtlichen Glanz; wo wir durch sie Verlässlichkeit und Hoffnung erfahren wollen und doch Teil der alten, in sich zerrissenen, vergänglichen Welt voller Gewalt und Brutalität bleiben. Aber da, wo diese beiden Welten aufeinanderstoßen, wo nicht die eine oder die andere ausgeblendet oder verdrängt werden, da, wo die Verheißung des Friedens mit der Realität des Krieges zusammenstoßen, da wo Obdachloser und Maklerin, Christin und Muslim, bärtiger Syrer und junge Deutsche nebeneinander zu sitzen kommen, entstehen zunächst ungläubiges Erschrecken, Verunsicherung, Furcht - so wie bei Maria, als ihr die Geburt Jesu angekündigt wurde, so wie bei den Hirten, als sie durch die Engel von der Geburt des Heilandes erfuhren und sich zum ersten Mal wieder angesprochen, gewürdigt sahen. Erst der Zuspruch der Engel 
Fürchtet euch nicht
versetzte sie in die Lage, beide Welten miteinander in Beziehung zu bringen - wohl ahnend: Nunmehr sollen Gottes neue Welt Ausgangs- und Zielpunkt ihres Denkens und Handels werden. Die Möglichkeit einer solchen Umorientierung macht Weihnachten bis heute so attraktiv und wertvoll!

Der Prophet Jesaja, dessen wunderbare Weissagung wir als Lesung gehört haben, berichtet auch vom Aufeinandertreffen der beiden Welten:
Das Volk, das durchs Finstere wandert,
sichtet großes Licht;
die im Schattenland siedeln,
Licht strahlt auf über ihnen.

Wenn Licht und Finsternis zusammentreffen, dann werden die Konturen unseres Lebens deutlicher erkennbar. Das ist zunächst eine Wohltat. Doch gleichzeitig hellt das Licht die Bedingungen auf, die zur Verdunkelung des Lebens und Verfinsterung der menschlichen Existenz geführt haben. Nun können wir uns nicht mehr damit herausreden, dass wir im Dunkeln nichts sehen können …

… aber wir können erkennen, wie die uns von Gott geschenkte Welt aussieht: ein Friedensreich ohne Ende. Für den Propheten ist diese Vision Grund zur grenzenlosen Freude:
Du breitest Jubel aus,
lässt große Freude wachsen.
...
Denn sein lastendes Joch,
den Stock seiner Schulter,
den Knüppel seines Treibers
zerbrichst du wie am Midianstag.
Denn jeder Soldatenstiefel,
der mit Getöse einher stampft,
und jeder Mantel,
der in Blut gewälzt ist,
muss ins Feuer hinein,
ein Fraß der Flamme.

Mit diesen Bildern, die mit dem Licht auf die dunkle Projektionsfläche unserer Wirklichkeit geworfen werden, kommen das wohltuende, eindeutige Handeln Gottes, seine Verheißungen des Friedens zum Vorschein. Dadurch wird alles heller. Doch leider büßt die ursprüngliche Helligkeit von Gottes Verheißung durch die Finsternis der alten Welt manches von ihrer Leuchtkraft ein - was so viel bedeutet wie: Nicht jeder Stock der Menschenschinder wird gebrochen; nicht überall werden der Soldatenmantel und der Soldatenstiefel ein Fraß der Flamme. Das ist – Gott sei es geklagt - auch an diesem Weihnachtsfest traurige Wirklichkeit – in der Ukraine, im Sudan, im Nahen Osten. Doch daraus, dass sich nicht überall und sofort Finsternis in Helligkeit auflöst, dürfen wir nicht schließen, dass die Dunkelheit das Licht besiegen wird. Diejenigen,
•    die von der Dunkelheit, von Soldatenstiefeln und Knüppeln profitieren,
•    die sich in ihrer Finsternis grelle Nischen eingerichtet haben, während sie Mensch und Natur in den Abgrund stürzen,
•    die ihre Lebens- und Glaubensweise mit terroristischer Gewalt anderen aufdrücken,
möchten das natürlich so haben. Sie möchten weiter ihre Waffen herstellen, verkaufen und im Krieg zur Anwendung bringen. Sie profitieren von der Verfeindung der Menschen. Sie teilen die Welt weiter in gut und böse auf, um darin die Rechtfertigung für ihr barbarisches Treiben zu finden. Sie deklarieren ihr dunkles Tun weiter als alternativlos und verhöhnen die, die auf die andere Wirklichkeit Gottes hoffen, als Phantasten.

Dagegen setzt der Prophet seine Vision. Dagegen verbreiten die Engel ihre Botschaft: Friede auf Erden. Diese Verheißung der neuen Welt ist nicht verbunden mit namenloser Macht und Tod, sondern mit neu entstehendem Leben, mit einem Namen, mit Zukunft:
Denn ein Kind ist uns geboren,
ein Sohn ist uns geschenkt.
Auf seiner Schulter kommt die Herrschaft,
und er erhält die Namen:
der-Wunder-plant, Kraftvoller-Gott,
Vater-der-Zukunft, Friedensherrscher.

Die Namen des Kindes stehen für die neue Lebensaussicht: Frieden ohne Ende, Treue und Recht. Diese Lebensaussicht konkretisiert sich mit Jesu Geburt in Krippe und Stall. Mit ihr eröffnet Gott eine neue Wirklichkeit, eine neue Geschichte. Sie steht im Gegensatz zur Geschichte, die ein Augustus und Herodes, Cyrenius und Pilatus, die bis zum heutigen Tage die schreiben, die auf Gewalt und Terror setzen. Ich muss sie nicht aufzählen. Viel wichtiger ist, dass wir uns ihrer Übergriffigkeit entziehen, dass wir unser Denken, Glauben und Handeln nicht von ihnen diktieren lassen – ja, dass wir uns der neuen Wirklichkeit öffnen, ohne die alte zu verleugnen.

Wer sich auf die Verheißung Gottes einlässt, der steigt aus der Eindimensionalität der alten Wirklichkeit aus. Dies an Weihnachten zu verkünden, sind wir unserer Welt schuldig. Dies uns in einem Moment in Erinnerung zu rufen, da wir fassungslos auf das Leid blicken, was ein Mensch anderen zufügen kann, soll uns davor bewahren, uns den Gesetzmäßigkeiten der Gewalt zu unterwerfen, uns dem Hass zu ergeben. An der Krippe können wir allem entsagen, was uns an die alte Welt bindet. Denken wir daran: Die Weisen bzw. Könige breiteten vor dem Kind in der Krippe ihre Statussymbole aus - Gold, Weihrauch und Myrrhe. Das geriet nicht zu einer Geschenkorgie. Es war eine Selbstentwaffnung. Diese steht der alten Welt, steht uns heute noch bevor: Ablegen aller Statussymbole, auch die der Gewalt.

An der Krippe werden aber unsere leeren Hände und Herzen wieder gefüllt: Das Kind, Jesus Christus, nimmt die Herrschaft, nimmt die Verantwortung für die alte Welt auf seine Schulter. Das ist das eigentliche Weihnachtsgeschenk: Nicht wir müssen diese Welt tragen, an der wir uns so oft verheben. Jesus trägt sie für uns und nimmt damit dieser Welt, unter der wir so viel leiden, die Unerträglichkeit. Er schenkt uns so die Hoffnung darauf, dass mitten in dieser kriegerischen, gewalttätigen Welt mit ihrem namenlosen Leid die Namen des Kindes zum Zuge kommen:
der-Wunder-plant, Kraftvoller-Gott,
Vater-der-Zukunft, Friedensherrscher.

In diesen Namen lasst uns diese Weihnachtzeit begehen und das neue Jahr beginnen. Amen.


Christian Wolff, Pfarrer i.R.
info@wolff-christian.de
www.wolff-christian.de