Ansprache in der Motette zum Gedenken an den 150. Geburtstag von Karl Straube

  • 06.01.2023 , Epiphanias
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 6. Januar 2023 aus Anlass des 150. Geburtstags von Karl Straube

Liebe Motettengemeinde,

dass wir uns hier überhaupt treffen zur Freitagsmotette, haben wir dem heutigen Geburtstagsjubilar Karl Straube zu verdanken. Seit Mai 1917 hatte er den schwer kranken Thomaskantor Gustav Schreck vertreten. Seit September gab es auf den offiziellen Motettenprogrammen der Samstagsmotette einen Hinweis auf eine „öffentliche Hauptprobe“, jeweils am Freitag, „¼ sechs Uhr“. Ab dem 21. Dezember 1918 existieren für die neu eingeführte Freitagsmotette gedruckte Programme und die Anfangszeit wurde auf 18.00 Uhr festgesetzt, auch Orgelstücke, Organisten und Pfarrer wurden genannt.

Wer war Thomasorganist und Thomaskantor Karl Straube? Geboren am 6. Januar 1873 in Berlin, legte der Vater, Organist an der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche, den Grundstein zu Karls musikalischer Ausbildung. Die Schnelligkeit und Präzision, mit der der Junge lernte und mit der er auch nur einmal gehörte Stücke nachspielen konnte, bewegten den Vater allerdings bald zu der Entscheidung, das Talent seines Sohnes einem erfahrenen Lehrer anzuvertrauen.

1888 wurde Straube Schüler Heinrich Reimanns. Bei diesem begegnete er einer ihm bisher unbekannten Art der Bach-Interpretation. Statt dem üblichen "Schlendrian, Bach auf der Orgel in einem gleichförmigen Fortissimo zu spielen" (Straube), welcher Bach in den Ruf eines "altmodischen", blutleeren Musikers gebracht hatte, lernte er hier eine dynamische Art des Spiels kennen. Dieses Erlebnis formte Straubes großes Ziel: Bachs Orgelmusik von der überlieferten Interpretation zu befreien und dazu alle technischen Möglichkeiten der modernen, dem Klangideal des Wagnerschen Orchesters verhafteten Orgel zu nutzen

1895 war der 22-jährige Straube bereits ständiger Vertreter Reimanns an der großen Sauer-Orgel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zwei Jahre darauf bekleidete er, der nie ein akademisches Studium absolviert hatte, an der Willibrordikirche in Wesel ein eigenes Organistenamt. Hier erarbeitete er sich das Repertoire, das auf den folgenden Konzertreisen seinen Ruhm als Orgelspieler begründen sollte. Im Mai 1898 lernte Straube in Frankfurt am Main den Komponisten Max Reger kennen. Aus dieser Begegnung erwuchs eine äußerst produktive Freundschaft, die bis zum Tode Regers währen sollte. Straube beriet Reger in kompositorischen Dingen, regte den Freund wohl gar zu mancher Komposition an und machte dessen Werke - zumeist durch Uraufführungen - auf Tourneen in ganz Deutschland bekannt. Umgekehrt aber verlangten die technischen und musikalischen Schwierigkeiten der Regerschen Stücke dem Organisten größte virtuose Anstrengungen ab.

1902 berief man Straube als Thomasorganist nach Leipzig. Wenig später übernahm der inzwischen 29-Jährige die Leitung des Bachvereins und zeichnete für die Aufführung chorsinfonischer Werke im Gewandhaus verantwortlich. Als Thomaskantor Gustav Schreck 1918 starb, trat Straube dessen Nachfolge an. Die Kirchenvorstände von St. Nikolai und St. Thomas, vertreten durch Superintendent Cordes meldeten sich dabei aber beim Rat der Stadt Leipzig mit ihren Bedenken zu Wort. Denn als Thomasorganist hatte Straube immer mal die Kirche während der wohl recht langen (und möglicherweise langweiligen) Predigten verlassen. Und der damalige Rektor der Thomasschule Professor Tittel schrieb in seiner Stellungnahme: Straube gebe sich außerordentlich viel Mühe… allerdings habe er die Neigung, „etwas zu viel zu proben, was eine stärkere Anstrengung der Schüler bedeutet und auch manche Schwierigkeit für den Schulbetrieb mit sich bringe. Sein Eifer in dieser Richtung müsste daher etwas gezügelt werden.“ Straube selbst war der Übergang ins Thomaskantorat übrigens auch nicht leichtgefallen. So recht gewachsen fühlte er sich dem großen künstlerischen und organisatorischen Druck nicht. Bereits in der Anfangsphase seiner Tätigkeit bemühte er sich um einen Nachfolger. An seinen Lieblingskandidaten Dr. Gerhard von Keußler, Professor für Komposition an der Berliner Akademie der Künste, richtete er die dringende Aufforderung zur Nachfolge: Er, Straube, habe nicht die nötige musikalische Begabung, um das Leipziger Amt wirklich "im großen Stil" verwalten zu können. "Thomaskantor muss ein Komponist sein. Da ich das in keiner Weise bin, fühle ich, wie eigentlich verfehlt meine Berufung ist." Dazu kamen gesundheitliche Bedenken, denn sein Gehör war nicht ganz in Ordnung. Doch Keußler schlug ihm die Bitte ab. Und so blieb Straube, mittlerweile auch gerühmter Orgellehrer am Konservatorium, Leiter des Thomanerchores.

Und man muss sagen: Er hat den Thomanerchor in die Neuzeit geführt. Er war neuen Dingen gegenüber aufgeschlossen und zugleich Bewahrer der Tradition. Er nutzte die Entwicklung der Massenverkehrsmittel und der technischen Medien wie den Rundfunk, um den Thomanerchor buchstäblich in die Welt zu tragen. Er muss ein außerordentliches Charisma gehabt haben, wovon viele Briefe und Berichte von Straube- Schülern zeugen. Er verschaffte Bachs Kantaten den Vorzugsplatz in den Gottesdiensten trotz Widerstands. 1931 begann die Ausstrahlung aller vorhandenen Kantaten im Radio. Dazu ist folgendes Bonmot überliefert: „Ein jeder Afrikanermohr hört sonntags den Thomanerchor.“ Die erste Auslandsreise des Chors fand 1920 statt und war der Beginn einer regen Reisetätigkeit, die den Thomanerchor und damit auch die Stadt Leipzig weltbekannt machten.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, erschütterte das die Position und die Arbeitsmöglichkeiten Straubes als Kantor nachhaltig: Die grundsätzlich antikirchlich eingestellten Machthaber taten nicht nur ihr Möglichstes, um die Kirchenmusik in ihrer Wirkung zu beschneiden, sie fanden auch keinen Gefallen am amtierenden Thomaskantor, der im Präsidentschaftswahlkampf von 1931 öffentlich gegen Hitler Stellung genommen hatte. Um aber sein Amt nicht einem Parteischergen überlassen zu müssen und den Chor damit dem musikalischen Untergang zu weihen, trat Straube in die Partei ein. Bis 1939 konnte er seine Arbeit weiterführen.

Doch seine vermutlich weiterhin nach außen getragene Haltung blieb der Partei nicht verborgen: Straube lehnte nicht nur jegliche Teilnahme an Parteiveranstaltungen ab, er bekannte sich auch weiterhin zu jüdischen Freunden und Kollegen. So drängte man Straube "durch Intrigen", wie er selbst notierte, aus dem Amt: Man machte die Verlängerung seines Vertrages von der Zustimmung seines designierten Nachfolgers im Kantorat, seines Schülers Günther Ramin, abhängig. Dieser Demütigung entzog sich Straube durch seinen Rücktritt.

Bis 1948 blieb er Orgellehrer und versuchte nach Kräften, die Ausbildung der Kirchenmusiker zu fördern auch und gerade am von ihm begründeten kirchenmusikalischen Institut. Und oft war er auf dem Straube-Platz dahinten an der Säule in den Motetten anzutreffen. Er starb am 27. April 1950 in Leipzig.

Straube war also jemand, der sich mit der Zeit mit seinen Möglichkeiten in seine Aufgabe hineinfand. Dies ist durchaus ein biblisch-menschliches Thema. Und gerade heute am 6. Januar wie auch in den zurückliegenden Wochen hat es uns beschäftigt. Denn ständig begegnen uns in den Weihnachtsgeschichten Menschen, bei denen es genauso ist. Sie werden von Gott darin bestärkt, ihre Lebensaufgabe zu finden und anzunehmen. Maria soll den Heiland gebären, das kann sie zunächst nicht glauben. Josef will sich erst verdrücken, bekommt aber vom Engel des Herrn die Aufgabe, das schwache Kind zu schützen und das Heilige zu hüten. Die Hirten, die sich erst furchtbar fürchten, bekommen den Auftrag weiterzusagen, dass die Zeitenwende Gottes angebrochen ist. Und die Weisen aus dem Morgenland, sollen Wege an Herodes vorbei suchen, die gute Nachricht in ihrem Land weiterzuverbreiten. Alle erschrecken erst einmal vor ihrer Aufgabe. Sie müssen erst der Engel: „Fürchte Dich nicht“ hören und Mut von oben bekommen und den, Zuspruch: Ihr werdet gebraucht – und zwar so wie ihr seid.  Mit dem, was uns gegeben ist, können wir sehr wohl etwas ausrichten, das uns überdauern wird auch wenn wir in vielen schwach und fehlbar bleiben und immer wieder auch an uns selbst verzweifeln mögen.  So ging es den biblischen Protagonisten, so ging es Karl Straube, so geht es uns. So möge uns Gott in diesem Jahr beistehen in dem, was wir als unsere Aufgabe erkennen mögen in all den Veränderungsprozessen, die gerade ablaufen. Oder auch, um es mit der Jahreslosung zu sagen: Er ist ein Gott, der uns sieht. Zum Glück. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org