Ansprache im Chorherrenstift Schlägl/Oberösterreich aus Anlass der Internationalen Schlägler Musikveranstaltungen

  • 05.04.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Ansprache Schlägl, 2. April 2017

Liebe Gemeinde hier in Schlägl,
lassen Sie mich Ihnen zunächst danken für die Einladung. Herr Rupert Frieberger hatte sie schon vor langer Zeit ausgesprochen. Er war ja oft in Leipzig zum Bachfest, wo wir uns vor ein paar Jahren bei uns Garten des Thomashauses gleich neben der Thomaskirche kennengelernt haben. Ich weiß noch genau, es war nach einer Motette, die ich zusammen mit meinen Konfirmanden gestaltet habe. Jede Gruppe setzt sich während des Bachfests mit einer Bachkantate auseinander und spricht im Gottesdienst über das, was die Jugendlichen in der Musik und im Text entdeckt haben, sie halten also die Predigt. Pater Rupert war sehr bewegt davon und er drückte mir 200,- Euro in die Hand, damit ich die Gruppe zum Eisessen einladen könnte. Seitdem haben wir uns regelmäßig gesehen und einander geschrieben und immer, wenn er in Leipzig war, besuchte er unsere Gottesdienste. So traurig ich über seinen Tod bin, bin ich aber doch froh und dankbar, dass sich der Kontakt zwischen Leipzig und Schlägl dennoch aufrecht erhält und ich danke Abt Martin und Herrn Jeremia dafür.

Und ich freue mich sehr, dass die Auswahl der Stücke dieser Ökumenischen Feierstunde eine so besondere ist. Denn mit der wunderbaren Kantate "Du wahrer Gott und Davids Sohn" haben wir es mit einer der beiden Bewerbungskantaten Bachs für das Leipziger Thomaskantorat zu tun - und sie ist die eigentliche, das „ursprüngliche Probestück" aus dem Frühjahr 1723. Wie kam es zu dieser Bewerbung? Gerne hätte der Leipziger Rat damals nach dem Tod des Thomaskantors Johann Kuhnau den berühmten Georg Philipp Telemann als dessen Nachfolger gesehen. Aber er blieb genau wie der andere interessante Kandidat Johann Friedrich Fasch in seiner bisherigen Position. Gewählt worden war im Januar 1723 schließlich Christoph Graupner aus Darmstadt. Aber er sagte im März ab. Und nun drängte die Zeit für eine weitere Vorstellung von Kandidaten bzw. deren Bewerbungskantaten. Denn: In Leipzig galt in der Fastenzeit „tempus clausum", geschlossene Zeit, d.h. in den Gottesdiensten gab es keine Figuralmusik. Und so war es der letzte Sonntag vor der Fastenzeit, der Sonntag Estomihi, an dem Bach antrat, eben mit jener Kantate, die wir gleich hören. Wie er ankam - das war bemerkenswert, selbst in Hamburg (der Stadt Telemanns!) war danach in der Zeitung zu lesen, dass „desselben damahlige Music von allen, welche dergleichen ästimieren, sehr gelobet worden" sei.
Und in der Tat: Diese Kantate ist eine der ganz besonderen von Bach in ihrer musikalischen aber auch in ihrer theologischen Behandlung des Sonntagsevangeliums, das damals am Sonntag Estomihi gelesen wurde. Es findet sich im 18. Kapitel des Lukasevangeliums.

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.

35 Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.37 Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Schon im ersten Satz der Kantate ziehen Bach und sein uns unbekannter Textdichter diese Geschichte mitten hinein in unser Leben: „Du wahrer Gott und Davids Sohn, der du von Ewigkeit in der Entfernung schon mein Herzeleid und meine Leibespein umständlich angesehen, erbarm dich mein." Der Erzähler geht in die Rolle des Blinden und nimmt uns mit in sie hinein. Der Blinde aber ist in dieser Geschichte derjenige, der der eigentlich Sehende ist. Es ist der, der tiefer sieht, der versteht. Die Jünger reagieren schon zum dritten Mal mit Unverständnis darauf, dass Jesus ihnen sagt, dass sein Weg nach Jerusalem ins Leid und in den Tod nötig ist. „Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war".

Der Blinde dagegen erkennt, warum Jesus diesen Weg hinauf gen Jerusalem geht. Es ist nämlich eigentlich ein Weg in die Tiefe - zu Menschen wie ihm. Er erkennt, dass sich in diesem Weg Jesu der Ausweg aus seinem erbärmlichen Leben, auftut, in dem ihm nur das Betteln bleibt. Mit aller Kraft ruft er um Erbarmen und sieht die Chance, herauszukommen aus seinem Leben im gesellschaftlichen Abseits.

Dabei geht es noch gar nicht um Heilung und um das Sehen können, sondern zunächst um die Bitte um Erbarmen, darum, gesehen zu werden. Angenommen zu werden. Und das nimmt Bach auf in dem ungeheuer anrührenden Duett von Alt und Sopran. Es geht ihm nicht um die einzigartige Heilung eines einzelnen oder besondere Wundertat Jesu, sondern er nimmt auf, was uns Menschen immer wieder bewegt, Situationen, Momente, wo wir verzweifelt nach Trost, Halt und Hilfe suchen. Wo wir müde sind, resigniert oder merken: Hier kann ich mich nicht selbst am Schopf packen und herausziehen. Im Rezitativ des Tenors unterstreicht Bach, wie sehr er das selbst als die grundlegende Situation empfindet, in der der Mensch sich in dieser Welt vorfindet. Er unterlegt die sehnsuchtsvoll vorgetragene Bitte um Nähe „Ach! Gehe nicht vorüber, Du aller Menschen Heil" mit der Melodie des Chorals: „Christe, du Lamm Gottes,
Der du trägst die Sünd der Welt, Erbarm dich unser!"

Hier klingt es an: Dieser Choral ist das Leitmotiv der Kantate, das auch im folgenden Chor auftaucht und nicht zuletzt in dem großartigen von Bach aus einem älteren Passionswerk hinzugefügten Choral endet. Auch theologisch ist damit das Thema gesetzt: Die Bitte um Erbarmen. Die Bitte, in seiner Not und in seiner Unfähigkeit, etwas tun zu können, gesehen und gehört zu werden. Allerdings tut der Blinde, was er tun kann. Er bittet um Hilfe, er bittet in der Kantate um den Segen. So heißt es im Tenorrezitativ: „Ich fasse mich und lasse dich, nicht ohne deinen Segen." Da hören wir Jakob, wie er am Jabbok mit Gott ringt und gezeichnet von diesem Kampf, aber gesegnet den großen Schritt zur Versöhnung mit seinem Bruder Esau tun kann. Hier ist es auch die Bitte, dass Gott mit seinem Segen unser Leben auf eine neue Grundlage stellt. Dass er uns ermutigt und kräftigt dazu, uns nicht selbst auf das als unveränderlich festzulegen, was jetzt gerade ist.

Es ist auch die Geschichte des Menschen, der sich eben nicht abfindet mit Blindheit und Leid auf dieser Welt, wenn der Tenor rezitiert: „Ich sehe dich auf diesen Wegen, worauf man mich hat wollen legen, auch in der Blindheit an." Es ist dieser Segen, der uns hilft und uns neu motiviert, herauszukommen und aufzustehen und uns nicht entmutigen zu lassen aus den tiefen Löchern, in denen wir uns manchmal befinden: aus der manchmal so zermürbenden Normalität des Alltags, aus dem Gefühl, irgendwie überflüssig zu sein oder dass man doch nichts ausrichten kann als kleines Licht und ich nicht recht weiß, wie soll ich mich denn beteiligen am Leben um mich herum, wie kann ich Verantwortung übernehmen, mitreden, mittun. Es ist Gottes Segen, der uns dazu aufrichtet. Mit ihm kann selbst das, was an sich unerträglich ist, erträglich, tragbar werden - oder lässt sich gar wenden. Mitten in unserer Schwach-und Blindheit stattet uns Gott aus mit seinem Segen, der uns Hoffnung verleiht und Würde.

Nochmals: Das ist das, was der Blinde im Weg Jesu hinauf gen Jerusalem erkennt. Den Weg des Segens. Den Weg in die Tiefe - zu Menschen wie ihm. Jesus geht den Weg ins Leid mit dem Ziel, es als bestimmende Macht in unserem Leben zu überwinden - und mit ihm all das, was uns jetzt daran hindert, als die zu leben, die wir eigentlich sind. Und so ist in dieser Geschichte die ganze Passionsgeschichte schon vorweggenommen: Sowohl der Ruf der Menge „Hosianna"-„Hilf doch" als auch das Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen". Er ist der Sohn Davids, der am Elend und Leid der Menschen nicht vorbeigeht. Sondern es am Kreuz mit ihnen teilt und damit über all das das Urteil spricht, was Menschen einander anzutun in der Lage sind: brutale Gewalt, Verleumdung, Verachtung. Am Kreuz, vollzieht sich im Sterben Jesu das Gericht Gottes darüber. Was den Tod bringt, wird in seinem letzten Anspruch auf uns überwunden.

Das erkennt der Blinde als erster, vor den vermeintlich Sehenden. Und es macht ihn froh und fähig hinzuschauen und zu handeln und nicht wie gelähmt am Straßenrand zu sitzen. So heißt es im folgenden Chorsatz: „Künftig soll dein Wink allein der geliebte Mittelpunkt all ihrer (also der Augen) Werke sein."
Möge das auch uns geschenkt sein. Dieser Trost, den Bach in Wort und Musik 1723 seiner Gemeinde mit auf den Weg geben wollte in bewegten Zeiten. Der wunderbare Tanzrhythmus des Chores „Aller Augen warten auf Dich" einerseits sowie die getragene, gehaltene Atmosphäre des Schlusschorals andererseits, richten uns auf, setzen uns in Gang und verleihen uns Orientierung. Die Bitte um Erbarmen und wie im letzten Satz um den Frieden: Sie sind Ausgangspunkt für jede Erneuerung unseres Lebens. Amen.

Britta Taddiken, taddiken@thomaskirche.org