Predigt über Lukas 15,1-10

  • 02.07.2017 , 3. Sonntag nach Trinitatis
  • Vikarin Dr. Teresa Tenbergen

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

„Worüber musst du denn predigen?", fragen meine Töchter, als sie mich an meinem Schreibtisch besuchen kommen. „Über das verlorene Schaf.", sage ich. „Ach so, ja, die Geschichte." Ja, die: Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
„Schön, Mama! Endlich mal was, das wir auch verstehen." „Achso?", frage ich. „Ja klar, der Hirte sucht das winzig kleine Schaf, das verloren ging. Und die anderen passen inzwischen auf sich selber auf. Und dann findet der Hirte das kleine Schäfchen und trägt es vorsichtig zu den anderen. So wie der Jesus auf dem alten Bild bei der Uroma. Ist doch ganz einfach. Wir gehen spielen." Ich seufze. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Kommentare und Notizen, der Predigttext ist mit bunten Markierungen versehen und im Gegensatz zu meinen Töchtern scheint es mir dann doch nicht ganz so einfach zu sein mit den beiden Gleichnissen, die Lukas der weltberühmten Erzählung vom Verlorenen Sohn vorangestellt hat. Bei näherer Betrachtung nämlich stellen sich doch einige Fragen: Passen diese beiden Gleichnisse tatsächlich zusammen? In der Geschichte vom verlorenen Schaf geht es zwar um ein Lebewesen, aber um eins von vielen, um einen irgendwie doch verzichtbaren Besitz. Im Gleichnis von der Drachme scheint es um viel mehr zu gehen, ein Zehntel der ganzen Habe, die ohnehin schon äußerst spärlich ist. Und dann: das Schaf und die Drachme bleiben völlig passiv, gedeutet wird das Gleichnis aber in der Freude über den einen Sünder, der offenbar aktiv Buße tut. Und überhaupt: wer ist hier eigentlich wer?
So komme ich nicht weiter. Also beräume ich meinen Schreibtisch. Und fange ganz von vorne an.
Da ist also die bekannte Szenerie. Jesus, umringt von den Männern, die gern mit ihm stritten und disputierten, angezogen von seiner Gelehrtheit, abgestoßen zugleich von seiner Radikalität, von seiner Angewohnheit, die Dinge anders zu machen, als sie es gewohnt waren. So sehr sie sich auch über ihn ärgern mochten, so gerne hätten sie ihn doch auch nur für sich gehabt. So gerne wollten sie doch auch anerkannt werden von Jesus in ihrem Bemühen, gottgefällig zu leben. Dieses Spiel wird jäh unterbrochen, als eine andere Gruppe von Männern und Frauen auftaucht, solche, von denen sie sich üblicherweise fernhalten. Das gebietet ihnen die rabbinische Regel: „Der Mensch geselle sich nicht zu einem Gottlosen, selbst nicht, um ihn der Tora zu nähern." Eine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern war ihnen unmöglich. Jesus aber überging diese Regel. Er machte sich gemein mit denen, mit denen doch eigentlich keine Gemeinschaft möglich war. Mit denen, die willentlich oder unverschuldet nicht ins System gehörten. Jesu Verhalten fragte das System an. Die gelehrten Männer um Jesus murrten. Es ist Ausdruck für ein Nicht-sehen-Können: dasselbe Murren schleppte das Volk Israel mit sich durch die Wüste auf dem Weg in das verheißene Land. Irgendwann hatten sie nicht mehr sehen können, dass Gottes Ziel jenseits ihrer Realitäten lag. Und es ist dieses Ziel, von dem Jesus mit den Gleichnissen vom Verlorenen nun ein Bild zeichnet. Er hört das Murren der Gelehrten. Er fühlt ihren Wunsch nach Anerkennung. Er sieht, was sie nicht sehen können. Und malt das verheißene Land Gottes in die Grenzen ihrer Realitäten ein.
Mit jedem Gleichnis befragt Jesus die Gelehrten nach ihrer Rolle. Behutsam erst. Da sind ja die 99 Schafe, die eben nicht vom Weg abgewichen sind. Denen der Hirte einiges zutraut, indem er sie verlässt. Deren Sicherheit er nicht in Frage stellt. Jesus spricht von diesen 99 Gerechten und bestätigt den um ihn versammelten Männern den Wert ihres Glaubens und ihrer Treue. Er zeigt, wie schön dieses Bild ist. Und dass diesem Bild trotzdem etwas fehlt, wenn dieses eine, nur dieses eine Schaf nicht mehr Teil der Gemeinschaft ist. Sein Blick geht immer über die sichtbaren Realitäten hinaus. Und deshalb mutet er den Hörenden mit dem Gleichnis von der verlorenen Drachme eine nächste Stufe zu. Hier geht es nur noch um das Verlieren und das Wiederfinden. Wer seid ihr hier, fragt Jesus die Gelehrten: Die Suchenden, die Gefundenen oder die, die schließlich mitfeiern? Jesus spielt mit den Rollen. Auch mit meiner in diesem ganzen Geschehen.
Und während ich ihm lausche, frage ich mich, wer eigentlich definiert, wer die Verlorenen sind. Die, die aus dem System gefallen sind? Die, die sich innerhalb des Systems selbst verloren haben? Die, die jenseits der Kirchenmauern ganz gut klarkommen auch ohne den Glauben an Gott? Die, die sich in der Kirche verloren fühlen, weil sie nicht vorkommen in den großen Worten von den Kanzeln oder weil sie mit ihrer Meinung anecken? Die, die alles verloren haben? Die, die den Verlust nur fürchten? Die, die das verheißene Land nicht mehr sehen können?
Jesus spielt mit den Rollen. Ich könnte in jeder meinen Platz finden. Die Verlorenheiten kenne ich gut. Das Gefühl, unter lauter Menschen ganz allein zu sein. Aber der, der mich sucht in aller Verlorenheit, wird mich finden und behutsam nach Hause tragen. Zugegeben: das Bild des schönen Jesus mit dem Schaf auf den Schultern in der Wohnung meiner Großmutter hat einen starken Hang zur Romantisierung. Aber dahinter steht die tiefe Gewissheit dieser Gleichnisse: Nur der Verlust von etwas mit lebensnotwendiger Bedeutsamkeit initiiert eine solche Suche ohne Kosten-Nutzen-Rechnung. Und diese existentielle Bedeutsamkeit hat der Mensch vor Gott. Deswegen hört er nicht auf, nach ihm zu suchen. Nach mir.
Jesus spielt mit den Rollen. Wenn alles gut geht, werde ich im kommenden Jahr ordiniert. Irgendwo zwischen den vielen Papieren auf meinem Schreibtisch liegt auch eine Kopie des sogenannten Ordinationsvorhalts, der all das beschreibt, wozu ich mich mit meinem „Ja, mit Gottes Hilfe" bereit erklären werde. In diesem Text steht ein Satz, der mir schon lange nachgeht: „Gib keinen verloren" heißt es da. Ja, das wird meine Aufgabe sein. Das ist sie schon jetzt. Meine. Und Ihre irgendwie auch. Denn es bleibt eben, was es ist: Das Ziel Gottes liegt jenseits unserer Realitäten. Und die Herde ist erst mit allen 100 Tieren die, die sie sein soll. Ein bisschen Vision vom verheißenen Land soll mir da ins Herz gelegt sein für die Zukunft von Kirche und Gesellschaft, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Diese Vision lebt auch vom Begriff der Buße. Metanoia, dieses griechische Wort bedeutet Umkehr und auch - als eine fortwährende Aufgabe - Umdenken. Die Gleichnisse Jesu funktionieren nur, wenn sie Muster der Realitäten aufbrechen. Wenn Umstehende zu Akteuren werden. Wenn Menschen Prinzipien der Ausgrenzung erkennen und verändern. Wenn Gott die Mitte im Geschehen ist.

Als meine Töchter das nächste Mal ins Arbeitszimmer kommen, ist der Schreibtisch noch leer und die Predigtdatei auch. Vier Kinderaugen sehen mich enttäuscht an. „Bist du noch nicht fertig?" Nein, es ist immer noch ein Anfang. Aber vielleicht haben meine Kinder recht und es ist wirklich gar nicht so schwer:
Im Ineinander der Rollen liegt mein Platz in diesen Gleichnissen vom Verlorenen und in der Erzählung des Lukas im Ganzen. Und irgendwie hoffe ich, dass wir uns auch in Zukunft Geschichten vom Suchen und Finden erzählen werden, wenn das Murren in uns und um uns zu laut wird. Dass wir uns das Umdenken zugestehen und aus zu starren Rollen schlüpfen können. Und dass wir Gottes Freude teilen über jeden Menschen, mit dem das verheißene Land an Realität gewinnt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

Vikarin Dr. Teresa Tenbergen (teresa.tenbergen@web.de)