Predigt im Kantatengottesdienst (Nun komm, der Heiden Heiland) am 1. Advent, Offb 5, 1ff

  • 03.12.2017 , 1. Advent
  • Pfarrer Hundertmark

Predigt über Offb 5,1-5 am 1. Advent – 03.12.2017 – 09.30 Uhr St. Thomas zu Leipzig

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

In der soeben verklungenen Kantate von Johann Sebastian Bach „Nun komm, der Heiden Heiland“ wird dem sehnlichen Wunsch Ausdruck verliehen, dass die von Gott gegebene Verheißung seiner menschwerdenden Ankunft Wirklichkeit wird. Sein Licht will mit vollem Segen scheinen wird im ersten Rezitativ gesungen. Segensreiche, lichtdurchflutete Adventszeit – das wünschen wir uns. Danach sehnen wir uns und erleben doch oft genau Gegenteiliges. Deshalb ist es zu allererst wichtig, dass wir:

Warten lernen

Liebe Gemeinde, wir haben das Warten-lernen nötiger als je zuvor. In einer von Gleichzeitigkeit geprägten Gegenwart fällt Warten schwer. Denn da, wo uns durch digitale Vernetzung quasi alle Möglichkeiten offen stehen, möchten sie genutzt werden. Deshalb steigen die Erwartungen, verdichten sich zum Druck unter dem dann so mancher Zeitgenosse deformiert wird bzw. gänzlich zerbricht.

Wir werden lernen müssen, unseren Platz zu finden zwischen der geforderten Gleichzeitigkeit der Dinge und dem in uns wohnenden Bedürfnis, zur Ruhe kommen zu dürfen. Von der Gleichzeitigkeit geht ein süßes Gift der Versuchung aus. Pakete können bspw. online verfolgt werden und ich kann meinen Zeitplan danach stricken wo sich das Paket gerade befindet. Der gleichzeitige Informationsaustausch rund um die Welt, die Verfügbarkeit von Ressourcen auf Knopfdruck oder per Email eröffnen ungeahnte Möglichkeiten. Aber:

Allzu schnell geraten wir dabei auch unter das Räderwerk der Selbstoptimierung. Advent will einladen, zur Besinnung zu kommen. Lassen wir uns also die Hektik in der Adventszeit nicht von vornherein einreden. Vielmehr mögen wir das Warten neu lernen. Einher damit gehen der Mut und die Fähigkeit „Stopp“ zu sagen, wo sich ein adventliches Aufgaben-Karussell immer schneller dreht.

Einer jedoch kann nicht warten und er wartet auch nicht. Vielmehr versucht er ständig und auf unterschiedlichen Wegen, zu unserer Herzenstür zu gelangen, um dort anzuklopfen. In der Bassarie der Kantate wird es so besungen.

„Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.

So jemand meine Stimme hören wird

und die Tür auftun,

zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl

mit ihm halten und er mit mir.“

Gott geht es um Gemeinschaft. Gemeinschaft mit uns erlösungsbedürftigen Menschen. Erlöst werden müssen wir aus den Banden, den Stricken, die uns umschlingen und festzuzurren versuchen an den Gegebenheiten einer Welt, die sich zum alleinigen Maßstab macht. Dem will Gott Einhalt gebieten trotz aller durch den Schöpfungsauftrag uns verliehenen Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung. Weil wir uns in Gottesferne verlieren und dadurch verloren sind, muss Gott aufbrechen.

Weil Gott aufbricht, weil er zu uns aufbricht in Jesus Christus, immer wieder und unablässig, darf sein Signal des Aufbruchs zu uns als große Einladung verstanden werden. Es ist die Einladung, sich selber auf den Weg zu machen hin zu denen, die im Finsteren sitzen. Gottes Evangelium von einer umfassenden und durch nichts zu erschütternden Gnade wird zum Hoffnung gebenden Adventslicht. Es will leuchten. Es wird leuchten durch uns, wo wir Advent nicht allein als romantische oder hektische Zeit verstehen, sondern als Ansage, über eigene Lebensentwürfe nachzudenken. Adventszeit darf auch Zeit zur Umkehr sein – weg von mir hin zu denen, die mir Gott an die Seite gewiesen hat. Denn seine Gemeinschaft im Abendmahl wird vollkommen, wo ich selber Gemeinschaft lebe. Viele Stimmen erklingen im Advent. Sie rufen uns, preisen an, verzaubern oder lullen uns ein. Da hat es Gottes Stimme gewiss schwer. Deshalb brauchen wir auch die Stille im Advent, um Gottes Klopfzeichen wahrnehmen zu können.

 Advent heißt Ankunft. Somit liegt die fürbittende Erinnerung nahe, die in der Tenorarie besungen wird. 

„Komm, Jesu, komm zu deiner Kirche

und gib ein selig neues Jahr!

Befördre deines Namens Ehre,

erhalte die gesunde Lehre

und segne Kanzel und Altar!“

Gerade in einer Zeit der Verunsicherung ist Vergewisserung im wahrsten Sinne des Wortes Not-wendig. Als Kirche brauchen wir den Segen Gottes für unser Tun. Es ist eben kein Automatismus, dass die Lehre gesund bleibt und alles Tun zu Gottes Ehre geschieht und nicht zur Profilierung einzelner Menschen. Advent will auch daran erinnern, dass Erneuerung im eigenen Haus, in der eigenen Gemeinschaft stets notwendig ist. Kirche ist genauso erlösungsbedürftig wie wir Menschen es sind. Möge das neu beginnende Kirchenjahr für uns ein Jahr der Besinnung auf genau jene Aufgaben werden, für die uns Jesus Christus berufen hat. Im Taufevangelium hörten wir sie vorhin: Zu den Menschen gehen, ihnen das Evangelium verkünden und uns Jüngerinnen und Jünger zu sammeln. Nicht mit Schwert und Angst, sondern mit Liebe und Zuwendung, ganz so wie wir es im Advent und an Weihnachten feiern. Die Kraft zu dieser Erkenntnis möge uns geschenkt werden. Dafür braucht es die Stille, um die Stimme Jesu zu hören.

Ein neues Jahr beginnt, liebe Gemeinde - ein neues Kirchenjahr! Eine Jahr des Aufbruchs nach den Reformationsfeierlichkeiten. Im Vorschein von Weihnachten sind wir gebeten, uns auszurichten, neu ausrichten zu lassen auf Gott. Doch wohin genau ist uns die Richtung gewiesen? Wie sieht der Entwurf für solch ein zielgerichtetes Leben aus? Und - wenn wir über uns selbst und unseren Lebenskreis hinausschauen - wie soll der Gang der neuen Zeit sein? Der Seher Johannes nimmt solche Fragen auf. Und er nimmt uns hinein in eine Schau, die seine - und unsere Sicht auf lange Fragen verändert. Johannes lässt uns teilhaben an dem Wechsel der Sichtweise, der ihm selbst zuteil wird. Er hat Ermutigung erfahren in einer Zeit der Bedrängnis. Ermutigt wird er durch den Blick auf denjenigen, der Antworten zu geben weiß auf die Fragen, weil er sie entschlüsselt – Jesus Christus. Schritt für Schritt nimmt er uns an die Hand, nimmt uns mit aus Ratlosigkeit  und Unsicherheit, aus einer Welt, die viele nicht mehr verstehen. Er will uns führen zu dem hin, der uns trostvoll nahe kommt – Gott als Mensch.

So wandern wir, an die Hand genommen, durch eine Zeit, die viele verunsichert und mancher als Krise empfindet, weil Orientierung verlorengegangen und Verantwortung nur schwer zu finden ist. Die Schatten solcher Bedrohung liegen schwer auf den Menschen. Werden sie die Oberhand gewinnen? Täuschen uns die vorweihnachtlichen Lichterketten nicht nur etwas vor? Welche Kräfte trauen wir einer einzelnen Adventskerze noch zu? Unser Leben, sein Verlauf; unser Land, seine Entwicklung; die Welt, ihr Geschick - sie wirken auf uns, wie ein „Buch mit sieben Siegeln“. Wir können es nicht Öffnen, nicht entschlüsseln. Wir erhalten keinen Aufschluss über das, was uns bevorsteht, und bleiben ratlos angesichts unüberschaubarer Entwicklungen und undurchschaubarer Zusammenhänge, die uns beeinflussen und steuern, gegen die wir uns so alzu oft ohnmächtig vorkommen.

Hier knüpfen wir an die Erfahrung des Sehers Johannes an. Im himmlischen Thronsaal sieht er zwar in der Hand Gottes eine Urkunde, beidseitig beschrieben, Papierrollen, versiegelt, so dass man nicht lesen kann, was darauf steht. Die Siegel müssten geöffnet werden, die Blätter entrollt, entfaltet - erst dann wäre die Schrift ganz zu entziffern, der volle Wortlaut zu lesen, der göttliche Plan erkennbar. Doch ist in aller Welt niemand vorhanden - nicht einmal im Himmel -, der das darf, der das kann; niemand, dem es gelingt, die Siegel zu öffnen, die Blätter zu entrollen, den Wortlaut zu deuten. Niemand in aller Welt!

Tränen steigen auf. Die Ohnmacht bricht sich im Weinen ihre Bahn. Denn dem Seher wird vor Augen geführt, wie unmöglich es ist, Gottes Plan mit der Welt, Gottes Vorhaben für die Christenheit zu entschlüsseln. Es sind Tränen des Schmerzes und wohl auch Tränen der Enttäuschung und Verzweiflung: woher soll Hoffnung kommen im Dunkel der Verfolgung? Wo gibt es Grund zur Zuversicht angesichts von Gewalt und Unterdrückung? Wo leuchtet die Liebe Gottes in der Finsternis der Welt? Es ist manchmal zum Heulen!

"Weine nicht!", sagt da einer zu Johannes, einer, der offenbar mehr Einsicht hat, auch wenn er selbst das Geheimnis des göttlichen Plans nicht enträtseln kann. „Weine nicht“ sagt er und das ganz zärtlich. Nicht im Stile von „Reiß Dich zusammen“, sondern, „Du brauchst Dich nicht zu fürchten“. Dieses „Fürchte dich nicht“ werden wir in drei Wochen als großen Zuspruch in das verängstigte Leben der Hirten, der Gemeinde Gottes hinein hören. „Lass dir Trost zusprechen. Lass deine Augen nicht länger tränenumflort und blind sein. Es ist nicht so hoffnungslos, wie es dir scheint. Es ist nicht so aussichtslos, wie es dir vorkommt. Die Rätsel, die dir unlösbar scheinen, werden entschlüsselt; die Ungewissheit, die dir unauflösbar vorkommt, wird klarer Einsicht weichen. Auf die Fragen, die dich umtreiben, gibt es eine Antwort. Auf die Sehnsucht, die dich quält, wartet Erfüllung. Für die Beunruhigung, die dir den Schlaf raubt, gibt es zufrieden stellende Lösungen; Anstelle der Verwirrung, unter der du leidest, findet sich gewiss machende Erklärung. „Weine nicht mehr!“

So verständlich unsere Ungeduld ist, so nötig ist das Warten lernen. Wir haben davon vorhin gehört. Der Kummer, manche Wut haben ihren Platz – aber sie sind nicht das letzte Wort. Der Engel lädt zur Klarsicht ein. Dafür ist es notwendig, die Tränen aus den Augen zu wischen. Mach die Augen auf, und schau: es macht Sinn, Geduld zu haben. Lohnenswert ist es, auszuhalten, was manchmal kaum auszuhalten ist und im Warten erfüllt sich die Verheißung eines Gottes, der uns gerade nicht die kalte Schulter zeigt, sondern der es gut mit uns meint und die Rätsel meines eigenen Lebens entschlüsseln wird.

Advent erinnert uns daran: Die Weltenwende steht uns nicht bevor, sondern sie ist durch die Ankunft Gottes als Mensch schon bewirkt. Darauf gilt es sich vorzubereiten, freudig und mutig. Alte Verhältnisse sind überwunden, die überkommenden Muster an ihr Ende gekommen, die Gesetze der Macht, die Macht der Vergeltung, die Vergeltung des Todes sind außer Kraft im Verhältnis zu Gott. Deshalb dürfen wir uns jetzt schon freuen und miteinander singen:

Tochter Zion freue Dich

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unser Verstehen, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.