Motettenansprache

  • 21.04.2018
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach
(* 21. März 1685, Eisenach; † 28. Juli 1750, Leipzig; Thomaskantor 1723-1750)
Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen
Kantate BWV 12 zum Sonntag Jubilate (EA 22. April 1714)

1. SINFONIA

2. CORO
Weinen, Klagen,
Sorgen, Zagen,
Angst und Not
sind der Christen Tränenbrot,
die das Zeichen Jesu tragen.

3. RECITATIVO (ALTO)
Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich
Gottes eingehen.
Apostelgeschichte 14:22

4. ARIA (ALTO)
Kreuz und Kronen sind verbunden,
Kampf und Kleinod sind vereint.
Christen haben alle Stunden
ihre Qual und ihren Feind,
doch ihr Trost sind Christi Wunden.

5. ARIA (BASSO)
Ich folge Christo nach,
von ihm will ich nicht lassen
im Wohl und Ungemach,
im Leben und Erblassen.
Ich küsse Christi Schmach,
ich will sein Kreuz umfassen.
ich folge Christo nach,
von ihm will ich nicht lassen.

6. ARIA (TENORE)
Sei getreu, alle Pein
wird doch nur ein Kleines sein.
Nach dem Regen
blüht der Segen,
alles Wetter geht vorbei.
Sei getreu, sei getreu!

7. CHORAL
Was Gott tut, das ist wohlgetan,
dabei will ich verbleiben,
es mag mich auf die rauhe Bahn
Not, Tod und Elend treiben,
so wird Gott mich
ganz väterlich
in seinen Armen halten:
drüm laß ich ihn nur walten.
Samuel Rodigast, 1675


Biblische Grundlage: Johannes 16,20-22
Jesus spricht: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.

Liebe Gemeinde,
„Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen", das ist schon ein überraschender Beginn für eine Kantate, die Johann Sebastian Bach für einen Sonntag geschrieben hat, der mitten in der österlichen Freudenzeit liegt - und ausgerechnet den Namen „Jubilate" trägt. Jubelt, singt. Bach hatte sie für einen Gottesdienst in der Weimarer Schlosskirche am 22. April 1714 komponiert und sie am 30. April 1724 hier in der Thomaskirche wiederaufgeführt. Warum nun also solch ein Text in der österlichen Freudenzeit - und dann auch noch heute, wo bei vielen angesichts der sommerlichen Temperaturen die Stimmungskurve deutlich nach oben zeigt? Hätten wir statt dem „Tränenbrot" aus dem Eingangschor heute nicht lieber einen Jubelgesang? Ja, so mag es manchem gehen und es ist ja schön und jedem zu gönnen, wenn man das heute so in sich verspürt. Aber: Es ist eben österliche Freudenzeit und nicht bloß Sommer, Sonne und gute Laune, so wunderbar es ist, das genießen zu können. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Sie ist mehr als eine Stimmungslage, sie ist eine Lebenshaltung, die uns das zu bewältigen hilft, was uns immer wieder weinen, klagen, sorgen, zagen lässt. All das unsägliche Unheil, das Menschen in der Lage sind anzurichten. Oder auch, wie wir persönlich mit Krankheit, Sterben und Tod in unserem Leben konfrontiert sind.

In dieser Kantate geht es darum, wie ein Mensch denn zu dieser Lebenshaltung kommen kann, die einen in all dem trägt. Dabei kann man dem Dichter Salomon Franck gute seelsorgerische Fähigkeiten bescheinigen, wenn er den Menschen in seiner ganzen Not ernst nimmt und ihm den ganzen ersten Teil des Textes widmet ohne zu früh mit dem Trost zur Stelle zu sein und ihn damit nur zu vertrösten. Damit knüpft der Kantatentext an den Duktus des Sonntagsevangeliums an, in dem Jesus seinen Jüngern kurz vor seinem Tod sagt: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen. Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Diesen Weg zeichnet die Kantate nach und bringt uns nahe, von welcher Qualität der österliche Jubel am Sonntag Jubilate ist: Sie ist verwandelte Traurigkeit. Lebensfreude, die durch das Verspeisen von Tränenbrot genährt und gestärkt worden ist. Eine Haltung, in der man sich nicht irre machen lässt von den Spöttern dieser Welt, die sich am Leid der anderen hochziehen und daran, dass ihnen eine Beleidigung so richtig gelungen ist und der andere sich verletzt zurückzieht. Eben so, wie es Jesus seinen Jüngern ankündigt: „Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen."

Auf dieses Wort Jesu bezieht sich der Chor nach der die Kantate eröffnenden Sinfonia. Ein dichter Satz, ein ergreifender Klagegesang. Bach hat ihn später zum „Cruxifixus" der h-moll-Messe umgestaltet. In den tiefen absteigenden Instrumentalstimmen mag dabei angedeutet sein, was für Christen der Beginn der Erlösung von dem ist, was uns immer wieder klagen und zagen lässt: dass Gott selbst in Jesus ins tiefste menschliche Leid hinabgestiegen ist. Und sich so ganz und gar solidarisch erklärt mit allen, die unter ihrer Last und ihrem Schmerz weinen und sich sorgen. Gott bleibt nicht unbeteiligt wie ein unbewegter Beweger, der unberührt über allem thront.

Diese enge Verbindung Gottes mit dem Menschen in der tiefsten Tiefe seines Schmerzes kann Christen zum Trost gereichen. So heißt es in der folgenden Altarie „Doch ihr Trost sind Christi Wunden". Hier, wo Qual und Feind mir zusetzen, kommt Christus mir nahe. Ich kann meinen Weg in seinem wiedererkennen - und andersherum. Am Ende bedeutet das: Überwindung des Leids. Ein neuer Anfang dort, wo am Karfreitag alles zuende zu sein schien, nein, sogar war. Wer das im Glauben annehmen kann als Perspektive für sein eigenes Leben, für den ist das der erste Schritt hin zu dem, was sowohl im Altrezitativ als auch in der Bassarie musikalisch umgesetzt wird: die Bewegung nach oben. Dem lähmenden Gefühl der Traurigkeit entzogen und wieder handlungsfähig zu werden. Und mehr zu überblicken als nur den Augenblick und das momentan Vorfindliche. Und so seinen Weg hier und jetzt im wahrsten Sinne des Wortes getrost, also getröstet, fortsetzen zu können.

Diese Perspektive nach vorne findet sich dann in der folgenden Tenorarie. Gleich zu Beginn stimmt die Trompete den Choral „Jesu, meine Freude" an und fügt diese Melodie dem gesungenen Text wie eine zweite Ebene hinzu. Man mag im Stillen die letzte Strophe dieses Chorals mithören - und vielleicht ist es von Bach auch tatsächlich so gemeint, das zu tun: „Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein. Denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein. Duld‘ ich schon hier Spott und Hohn, dennoch bleibst du auch im Leide, Jesu, meine Freude."

Österliche Freude ist verwandelte Traurigkeit. Und ein Geschmack von Ewigkeit, der unser ganzes Leben so durchziehen kann, wie es hier in der Kantate ausgedrückt wird: in „Wohl und Ungemach". Jubilate. Amen.

Gebet
Unser Gott, am Ende dieser Woche kommen wir zusammen und halten inne. Wir danken Dir das wir das tun können in dieser großen Gemeinschaft von Menschen aus verschiedenen Städten und Ländern und dass wir miteinander auf Musik hören dürfen, die uns tröstet, die uns aufrichtet und die uns an der österlichen Freude teilhaben lässt. Wir bitten Dich: Lass uns diese Freude spüren und davon hinaustragen zu denen, die sie im Moment so bitterlich vermissen mögen, weil sie ihr Leid drückt. Für sie und uns alle bitten wir Dich mit den Worten Jesu: Vaterunser...

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche taddiken@thomaskirche.org