Motettenansprache

  • 18.03.2017
  • Pfarrerin Taddiken

Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion (Nr. 1-10)

Liebe Gemeinde,
in der Tat kann man dem nur beipflichten, was die Altstimme in ihrem ersten Rezitativ in der Matthäuspassion singt: dass die Jünger töricht streiten, als eine Frau Jesus mit „köstlichem Wasser" das Haupt salbt. Sie lässt ihn ein liebevolles und wertschätzendes Zeichen ihrer Verehrung und Zuneigung spüren. Ihm, dem furchtbares Leiden bevorsteht, möchte sie noch eine letzte „wohltuende Spezerei" zukommen lassen, wie es in der dann folgenden Altarie heißt. Dort wird das Wasser noch vermischt mit ihren Tränen - eine Reminiszenz des Textdichters Picander an das Lukasevangelium. Dort ist es eine stadtbekannte Prostituierte, die Jesus dieses Zeichen der Liebe im Hause eines Pharisäers erweist. Nicht einmal Wasser hatte der Gastgeber Jesus gereicht, um die vom Weg staubigen Füße waschen zu können. Das wäre ein Minimum an Gastfreundschaft gewesen. Die anwesenden Männer, die diese Frau aber seltsamerweise zu kennen scheinen, kommen scheinbar gar nicht darauf und kommen über ihr Entsetzen bzw. über ihr nunmehr äußerlich nur noch schwer aufrecht zu erhaltenes Erscheinungsbild nicht hinweg. Jesus sagt ihnen dazu ziemlich unzweideutig: Weil sie weiß, dass ihr viel vergeben ist, deshalb kann sie auch Liebe zeigen.

Hier sind es nun die Jünger, die irgendwie außerordentlich begriffsstutzig gewesen sind. Gerade hatte Jesus ihnen unmissverständlich angekündigt, was ihn in Jerusalem erwarten würde. Die Kreuzigung. Sie hätten sicher gut daran getan, wie Bach an dieser Stelle in der Matthäuspassion, innenzuhalten und zu fragen: „Was hast du verbrochen, dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?" Stattdessen die uns selbst nicht ganz unbekannte Spitzfindigkeit, der Bach die entsprechenden spitzen Töne zuordnet: „Wozu dienet dieser Unrat, wozu, wozu, wozu? Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden."

Ja, so spitz wie das hier gleich gesungen wird, so spitzfindig sind sie. Und werden dafür von Jesus - erstaunlich liebevoll und geduldig angesichts des ihm Bevorstehenden ermahnt. Und nicht nur sie, sondern, dass was sich in dieser Spitzfindigkeit eben bei uns immer wieder findet: Dass wir manchmal so moralinsauer sind. Und denken: Bevor wir es nicht geschafft haben, dass in dieser Welt vollkommene Gerechtigkeit herrscht, dürfen wir uns auch nichts gönnen. Zu allem Überfluss erwarten die Jünger (und auch wir?) dafür auch noch, von Jesus bestätigt zu werden. Er erklärt ihnen dabei aber nichts anderes als die Rituale, die ihren Sinn haben: Einen Kranken bzw. Todgeweihten zu salben erweist ihm die Ehre, die jedem Menschen aufgrund der Tatsache zukommt, zum Bilde Gottes geschaffen zu sein.

Aber das eigentliche Problem ist nicht nur Unkenntnis über das, was sich gehört. Ich denke kaum, dass Matthäus und andere diese Geschichte deshalb in ihre Evangelien aufgenommen haben. Es geht hier um mehr: Wem der Sinn für schöne Dinge abhanden kommt, dem kommt auch ganz schnell der Sinn für den Wert der Freiheit abhanden. Wer meint, dass Schönes, wie z.B. auch Kunst und Kultur etwas sind, was man einsparen könnte, um damit die sozialen Kassen aufzufüllen, legt die Axt die Wurzel eines Grundbedürfnisses, das den Menschen u.a. sehr deutlich vom Tier unterscheidet. In der Kunst, in der Kultur, in der Literatur, in der Musik und auch in der Religion gibt es eine Freiheit des Denkens, Fühlens und Handelns wie sonst nirgends und der Mensch hat danach ein Grundbedürfnis wie nach Essen, Trinken, Schlaf und anderem. Vor allem, weil er ausdrücken kann, was in ihm ist. Wem dieser Sinn für freie Äußerung abhandenkommt, der wird damit anfangen, Künstler und Journalisten zu verhaften und andere freie Geister der freien Rede aus dem Weg zu räumen. Das ist kein Türkei-spezifisches Phänomen. Wem der Sinn dafür abhandenkommt, aus freien Stücken einem anderen Menschen einfach so etwas Gutes zu tun ohne jegliche Berechnung, einfach aus Liebe zum Menschsein, dem könnte es passieren, zu sehr Schlimmem fähig zu werden. Wo man einfache Zeichen der Wertschätzung und der Toleranz als im Grunde überflüssig bezeichnet, wie die Jünger es hier tun, ist man drauf und dran, die wichtigste Ebene zu verlassen, auf der sich unser Miteinander in Frieden und Toleranz abspielt. Und vor allem ist man drauf und dran, die ganze Passion Jesu von Anfang an miss zu verstehen: dass er sich in Liebe zu den Menschen hingibt. Dass er all ihren Hass, ihre Beleidigungen, ihre Brutalität, ihre Feigheit und Verlogenheit, ihre Lust am Gaffen und Spotten erträgt - und all das mit sich zusammen ans Kreuz nageln lässt.

Es ist ja gerade das Großartige an Bachs Passionen, dass alle Hörer aller Zeiten unmittelbar in das Geschehen eingebunden werden - mit allen Eigenschaften, die uns über die Generationen bleiben. Was die Jünger hier am Tisch veranstalten - es könnte sich auch in unserer Zeit abspielen. Aber ebenso ist uns auch das nahe, was die Frau empfindet, die diese Jüngerrunde aufsucht. Wir sind beides - und Bach gibt uns die Zeit und die Möglichkeit, das zu bedenken: Wie, Mensch, willst Du sein? Woran orientierst Du Dich? Lassen wir uns fragen, wenn wir den Beginn der Matthäuspassion nun gleich hören.

Wir beten:
Gott, unser Vater, wir bitten Dich: Schenke uns die Fähigkeit, auf unsere Nächsten zu achten. Schenke uns Augen, Ohren und Herzen, die ihre Not wahrnehme und zu lindern versuchen. Und schenke uns auch die Leidenschaft, uns für das Schöne einzusetzen, das wir in unserem Leben brauchen, wie das täglich Brot. Musik und Worte, die uns nähren und aufrichten. Du schenkst uns viel davon. Dafür danken wir Dir und bitten Dich mit Jesu Worten: Vaterunser....

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org