"Besinnung am Wochenende" in der Lutherkirche

  • 03.08.2019
  • Landesbischof i. R. Christoph Kähler

Liebe Freundinnen und Freunde der Besinnung am Wochenende!
In diesem Jahr liegen Psalmenworte unseren Besinnungen zugrunde. Sie wurden mit einer Themenangabe verbunden. Heute lautet der Satz aus Psalm 118:
„Der Herr ist meine Macht und mein Psalm und ist mein Heil“.
Der ganze Psalm war Martin Luthers Lieblingspsalm; von ihm sagte er: „Es ist mein Psalm, den ich liebhabe – denn er (hat) sich auch redlich um mich gar oft verdienet (gemacht), und mir aus manchen großen Nöten geholfen hat, da mir sonst weder Kayser, Könige, Weise, Kluge, Heilige hätten helfen mögen.“

Der Vorbereitungskreis hat diesem Psalmvers ein Thema zur Seite gestellt: Lebensgrund. Ich verstehe das Thema so, dass es mich, uns alle, fragt: Worauf bauen wir in unserem Leben? Was gibt uns festen Boden unter die Füße? Woraus beziehen wir unsere Kraft, unsere Stärke und das Lied, das wir trotz alledem anstimmen?

Dazu möchte ich Ihnen zuerst eine Geschichte erzählen, die diesmal nicht in der Bibel steht. Antaios heißt ein Riese, den die griechische Sage im Nahen Osten, genauer im heutigen Libyen, leben und kämpfen lässt. Sein Vater soll Poseidon, der Gott des Meeres gewesen sein, seine Mutter Gaia, die Erde. Sie merken, zu Antaios gehören die beiden Elemente Wasser und Erde. Berühmt-berüchtigt war Antaios aber, weil er mit jedem Fremden kämpfte, der an seinem Ufer ans Land ging und dort Fuß fassen wollte. Die Begegnung mit diesem Riesen, einem Göttersohn, war für alle seine Gegner furchtbar, denn er galt als unbesiegbar. Aus den Schädeln seiner Menschenopfer soll er einen ganzen Tempel für seinen göttlichen Vater gebaut haben. Doch da näherte sich seinem Land Herakles, den die Römer Herkules nannten. Auch er ein Göttersohn, sein Vater soll Zeus gewesen sein, der Götterkönig. Auch er wurde gezwungen, mit dem Riesen zu ringen. Der Sieg schien wie üblich dem Einheimischen zu gehören. Herakles kam in arge Bedrängnis, doch da entdeckte der Zeus-Sohn das Geheimnis der schier übermächtigen Stärke des Antaios: Jedes Mal, wenn dieser beim Ringen den Erdboden berührte, wuchsen ihm neue Kräfte zu, die seine Mutter Gaia, die Mutter Erde, ihm schenkte. Da verhinderte Herakles mit einer ungeheuren, letzten Anstrengung, dass Antaios wieder auf den Boden kam. Die Sage berichtet, er habe ihn lange in der Luft gehalten und dabei schließlich erwürgt. Heldensagen enden, wie wir wissen, oft mit dem Tod des Feindes. Antaios starb, weil er die Füße nicht wieder auf den Boden, auf die Mutter Erde, auf den Lebensgrund stellen konnte.

Antaios ist ein ziemlich unbekannter Held aus der Sage. Wie immer in den Sagen und manchen Märchen können wir in seiner Geschichte eine Frage entdecken, die wir aus unserem Leben gut kennen: Wenn uns alles zu viel wird, wenn wir die Nase voll haben, wenn uns die Kraft verlässt, wo können wir dann wieder auftanken, Kraft schöpfen, Boden unter die Füße bekommen?

In diesen Tagen liegt eine erste Antwort auf der Hand: Viele verreisen, um auf andere Gedanken zu kommen, um anderes zu erleben, um wieder zu Kräften zu kommen. Schön, wenn solche Wünsche sich erfüllen. Doch in manchen Situationen reicht das nicht. Wir nehmen uns ja immer selber mit – und unsere Schwächen. Manchmal ist auch einfach die Belastung so hoch, der tägliche Kampf so schwer, dass eine Reise keine Besserung erbringen kann. Auch fremde Hilfe vermag zuweilen wenig, auch nicht die von Kaisern, Königen, Weisen, Klugen und Heiligen, um mit Luther zu reden. Was dann? Dann hilft nur der Rückzug zu dem Vater des Lebens, dem wir unser Leben verdanken, der unser Leben trägt und der uns und unser Leben aufnimmt, wenn es soweit ist. Das erleben die Psalmbeter, dahinter stehen auch ältere Erfahrungen, an die die Psalmbeter erinnern. Dafür nur ein biblisches Beispiel: Als die Israeliten sich auf der Flucht vor ihren ägyptischen Herren befanden, kamen sie in eine aussichtslose Lage. Hinter ihnen die schwer bewaffneten Verfolger und vor ihnen das unüberwindliche Meer. Und dann? Die sagenhafte, die unwahrscheinliche Rettung, der Durchzug durchs Rote Meer. Nach dieser Rettung aus der Hand der unbarmherzigen Ägypter singen Mose und die Kinder Israel ein Lied. Es beginnt: „Der HERR ist meine Stärke und mein Lobgesang und ist mein Heil.“ Es ist wörtlich derselbe Satz wie in Psalm 118.

Als wir in der DDR nicht wussten, wann und wie die unbarmherzigen Machthaber ans Ende kommen würden, hörten wir besonders gern Negrospirituals, die geistlichen Lieder der Afroamerikaner. Sie boten nicht nur attraktive Musik, sondern sie erinnerten mit Inbrunst an das Schicksal der versklavten Israeliten in Ägypten und an ihre Befreiung. Gerade in Zeiten der Angst und der Not ist die Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft, an die Gewinnung der Freiheit, an Mauern wichtig, die stürzen können. Seien es die Mauern von Jericho oder die Mauern von Berlin. Diese Geschichten verweisen auf den einen Lebensgrund, aus dem immer wieder und oft überraschend unerwartet neues Leben wächst. Oder mit den Worten des Psalmbeters: „Der Herr ist meine Macht und mein Psalm und ist mein Heil“. Lasst uns das nicht vergessen!